FN 107: Die Illusion des Zugangs

Feldnotiz

Wir hegten einen naiven Glauben, populär in den frühen Tagen des Internets: Ignoranz sei eine Folge mangelnden Zugangs zu Informationen. Sobald Wissen frei verfügbar würde, kläre sich die Welt von selbst auf.

Eine logische Annahme, die von der Realität widerlegt wurde.

An die Stelle von Klarheit trat eine atomisierte Realität aus Echos. Die Verfügbarkeit von Daten hat die Polarisierung nicht geheilt; sie wurde zu ihrem Geschäftsmodell. Der Glitch im System liegt darin, das Problem am falschen Ende des Kabels zu verorten.

Schon in den 1940er Jahren lieferte der Soziologe Paul Lazarsfeld die entscheidenden Daten. Er untersuchte, ob das Radio als neues Massenmedium die Bildungsschranken bei der Mediennutzung einreißen würde. Das Ergebnis war eindeutig: Das Medium änderte sich, das Muster der selektiven Nutzung nicht.

Der Flaschenhals war und ist die Verarbeitung.

Jeder von uns operiert in einem Gravitationsfeld der eigenen Psychographie. Das ist keine moralische Schwäche, es ist eine Design-Entscheidung unseres auf energetische Effizienz getrimmten Betriebssystems. Dieses System 1 sucht nach Wahrheit, anstatt nach Resonanz, um kognitive Kosten zu sparen. Verstärkt wird diese kognitive Schwerkraft durch eine soziale: Wir jagen nach bestätigenden Daten und nach Signalen, die unseren Status sichern und unsere Wünsche validieren.

Höhere Bildung erweist sich hier als zweischneidig. Sie liefert oft nur die höherwertige Munition, um das eigene Weltbild noch raffinierter gegen dissonante Daten zu verteidigen – ein Phänomen, das als „motiviertes Denken“ bekannt ist.

In einer Welt des unendlichen Informationsangebots verschiebt sich die entscheidende Fähigkeit vom reinen Wissenserwerb zur Metakognition: der Kompetenz, die eigenen kognitiven Routinen einer permanenten nachrichtendienstlichen Analyse zu unterziehen. Agency ist die operative Kompetenz, die Qualität der eigenen Denkprozesse von den Ergebnissen zu entkoppeln und in Wahrscheinlichkeiten zu denken, statt nach Gewissheiten zu jagen.

Technologie ist dabei nur ein Verstärker. Das Internet ist kein universeller Aufklärer, sondern ein globaler Resonanzkörper. Es multipliziert die ältesten Muster unseres menschlichen Betriebssystems – die Jagd nach Status und die Flucht vor Dissonanz – mit Lichtgeschwindigkeit und monetarisiert sie als Hyperrealität.