FN 111-1: Kontextuelle Asymmetrie (Teil 1 von 2)
Feldnotiz
Szenario: Ein Radrennen. Die Führungsposition an der Spitze verlangsamt von 32 auf 24 km/h. Aus deiner Position im Feld, wo du kämpfst, um 22 km/h zu halten, sieht das wie ein Einbruch aus. Ein Fehler. Du witterst die Chance, die Lücke zu schließen.
Das ist der Glitch
in deiner Wahrnehmung: Du projizierst deine Realität, den Kampf am Limit, auf die Führungsposition. Du siehst ihre Handlung durch den Filter deiner eigenen, prekären Situation.
Die erste Hypothese formt sich reflexhaft: Sie schwächelt. Ein Controller
operiert mit konkurrierenden Hypothesen.
- Hypothese A (deine intuitive Annahme): Der Einbruch ist real. Sie hat ihre Reserven falsch eingeschätzt. Das ist die Gelegenheit zum Angriff.
- Hypothese B (strategische Konsolidierung): Sie agiert aus einer Position des Überschusses. Sie verlangsamt zur Konsolidierung ihrer Energiereserven für den nächsten Anstieg. Dein Versuch aufzuschließen wäre ein Sprint in die Erschöpfung.
- Hypothese C (Täuschungsmanöver): Das Manöver ist ein gezielt gesendetes Signal. Ihr Ziel ist die Attacke auf deine Entscheidungsfähigkeit, um dich zu einer selbstzerstörerischen Reaktion zu provozieren und aus dem Rennen zu nehmen.
Die Eindeutigkeit der Situation löst sich auf. Die Handlung der Gegenseite ist nur ein Signal im Rauschen. Was du als Fehler interpretierst, könnte Vorbereitung sein, eine Falle, oder irrelevantes Rauschen.
Oder nichts davon.
Die Meisterschaft zeigt sich darin, konkurrierende Modelle zu generieren, bevor du dich auf eine Erklärung festlegst. Die Wahrnehmung von Mehrdeutigkeit wird zur operativen Fähigkeit. Kontextuelle Asymmetrie bedeutet, dass jede:r Akteur:in für eine andere Zielfunktion optimiert, basierend auf der eigenen Position. Deine Interpretation der Daten ist daher immer eine Funktion dieser Position.
Die Handlung der Gegenseite wird so vom Auslöser zur reinen Information. Die operative Frage fokussiert auf die Güte der eigenen Modelle: Welches ist am wahrscheinlichsten zutreffend und auf welcher Datengrundlage fällt die Entscheidung?
Dieser Text ist die erste von zwei Feldnotizen zum Thema Kontextuelle Asymmetrie.