FN 120: Vom Zählen der Karten im Dschungel
Feldnotiz.
Die Wände sind tapeziert mit Heatmaps und Bow-Tie-Diagrammen. Risikoregister werden wie heilige Schriften zitiert. Es wird über „Unsicherheit“ gesprochen, als wäre sie eine einzige, beherrschbare Größe. Die Dashboards leuchten grün und suggerieren eine wissenschaftliche Präzision, die beruhigt.
Das ist ein Glitch
in deiner Wahrnehmung.
Diese Werkzeuge sind für eine Welt gebaut, die es nur selten gibt. Sie funktionieren perfekt in stabilen, vorhersagbaren Systemen – im Casino, wo die Regeln feststehen und die Wahrscheinlichkeiten bekannt sind. Ein Münzwurf ist Risiko. Ein Würfelwurf ist Risiko. Das lässt sich modellieren und versichern.
Deine Welt ist aber kein Casino. Sie ist ein Dschungel. Ein nicht-ergodisches System, in dem die Vergangenheit kein verlässlicher Indikator für die Zukunft ist und ein einziger Schock die Regeln des Spiels für immer verändert. Pandemien, technologische Durchbrüche, geopolitische Schocks – das sind keine Risiken. Das ist Unsicherheit in ihrer reinen Form. Sie kommen nicht mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Sie kommen als systemische Verwerfungen.
Deine Organisation, der Vorstand und deine Risikopraktiker:innen behandeln den Dschungel wie ein Casino. Sie zwingen die radikale Unsicherheit des einen in die sauberen Modelle des anderen. Das Resultat ist kein Lagebild, sondern eine Beruhigungspille – eine gefährliche Illusion von Kontrolle, die Compliance mit Resilienz verwechselt.
Ergodizität als Governance-Falle
Die meisten Risikorahmenwerke, von ISO 31000 bis COSO, basieren auf einer impliziten, fatalen Annahme: der Ergodizität. Sie unterstellen, dass sich über die Zeit alle möglichen Zustände eines Systems zeigen und die Zukunft im Großen und Ganzen der Vergangenheit ähneln wird. Der Durchschnitt wird sich durchsetzen.
In einem ergodischen System funktioniert das. In einem nicht-ergodischen System ist das eine Einladung zur Katastrophe. Hier gibt es „absorbierende Zustände“: Ruin, Bankrott, Tod. Wenn du diesen Zustand einmal erreichst, ist das Spiel vorbei. Du kannst nicht einfach neu würfeln. Ein einziges ruinöses Ereignis wiegt unendlich viel mehr als alle kleinen Gewinne zuvor.
Frank Knight hat diese Unterscheidung vor über einem Jahrhundert getroffen:
- Risiko: Die Würfel sind unbekannt, aber die Wahrscheinlichkeiten sind berechenbar.
- Unsicherheit: Wir kennen nicht einmal alle möglichen Ausgänge, geschweige denn ihre Wahrscheinlichkeiten.
Diese Unterscheidung zu ignorieren, ist kein akademischer Fauxpas. Es ist ein Governance-Versäumnis. Wenn der Vorstand Berichte erhält, die Unsicherheit in die Spalten „Likelihood“ und „Impact“ pressen, nimmt er an einer teuren Form des Selbstbetrugs teil.
Drei Linsen auf die Realität
Die Werkzeuge der Wahrscheinlichkeit sind nicht nutzlos. Du musst nur wissen, welche Linse für welches Terrain taugt.
- Die Gauß-Verteilung (Komfortzone): Die Glockenkurve. Sie beschreibt Systeme, in denen sich alles um den Mittelwert schart und extreme Ausreißer fast unmöglich sind. Perfekt für die Qualitätskontrolle in der Fertigung. Völlig ungeeignet für Finanzmärkte oder geopolitische Konflikte. Die Glockenkurve ist das trügerische Hintergrundrauschen eines Systems, das von einem „unmöglichen“ Ereignis getroffen werden kann.
- Die Pareto-Verteilung (Realitätscheck): Das 80/20-Prinzip. Sie zeigt, dass in vielen Systemen extreme Ereignisse viel häufiger sind, als die Glockenkurve uns glauben machen will. Diese „fetten Schwänze“ (Fat Tails) sind der Ort, an dem die systemischen Schocks leben. Pareto löst die Unsicherheit nicht auf, aber die Verteilung ist eine Warnung: Deine Strategie muss auf die seltenen, aber entscheidenden Ereignisse ausgerichtet sein, nicht auf den Durchschnitt.
- Die Bayes'sche Logik (Lernen im Nebel): Bayes behandelt Wahrscheinlichkeit nicht als eine feste Eigenschaft der Welt, sondern als Grad des Vertrauens in eine Annahme, der bei neuer Information aktualisiert wird. Es ist das operative Framework, um im Nebel der Unsicherheit Entscheidungen zu treffen und die eigene Karte permanent neu zu zeichnen. Es ist die disziplinierte Form der Intuition. Bayes zähmt die Unsicherheit nicht, aber es formt bessere Navigator:innen.
Keines dieser Werkzeuge verwandelt Unsicherheit in Gewissheit. Aber sie kalibrieren deine Wahrnehmung und zwingen dich, die richtige Frage zu stellen.
Die operative Direktive
Dein Risikoregister ist ein Blick in den Rückspiegel. Es erfasst nur die Kollisionen, die bereits stattgefunden haben oder deren Konturen klar erkennbar sind. Es erfasst Risiko.
Agency
ist die Fähigkeit, den Blick von den bereits materialisierten Risiken abzuwenden und stattdessen das Feld der Unsicherheiten zu kartieren. Das sind die Kräfte, die noch keine Form angenommen haben, aber das Potenzial besitzen, dein gesamtes Spielfeld neu zu definieren.
Fordere in deinem nächsten Risiko-Workshop keine präziseren Heatmaps. Decke den Glitch
im System mit einer einzigen Frage auf:
„Welche dieser Punkte sind Risiken, die wir modellieren können – und welche sind Unsicherheiten, auf die wir mit Resilienz, optionalen Handlungsspielräumen und strategischen Puffern antworten müssen?“
Beobachte, was in dem Raum passiert, wenn du das fragst. Das ist der Anfang.