FN 29-2: Das Rauschen der Karten (Teil 2 von 4)

Selbst wenn der Vertrag geschlossen ist, die Einheit im Feuer geschmiedet wurde und Fingerspitzengefühl zur zweiten Natur geworden ist, kann ein Team gelähmt sein. Die Akteur:innen vertrauen einander, sie beherrschen ihr Handwerk – und rudern trotzdem in verschiedene Richtungen.

Das Problem liegt nicht länger im Vertrag. Es liegt in der Realität, auf die sich dieser Vertrag bezieht. Oder genauer: Es liegt daran, dass es keine gemeinsame Realität gibt.

Sales navigiert nach Pipelines, die Entwicklung nach Roadmaps und das Controlling nach Deckungsbeiträgen. Jede Karte ist ein Meisterwerk der internen Logik. Präzise, intern konsistent und für sich genommen korrekt.

Gemeinsam ergeben sie kein Lagebild. Nur Rauschen. Ein Zustand brillanter, selbst produzierter Konfusion. Das System stottert in einer Endlosschleife: „OO-OO-OO“ – Observe, Orient, Observe, Orient. Es ist die Analyse-Paralyse, die sich als Produktivität tarnt. Der OODA-Loop ist nicht verlangsamt. Er ist gebrochen.

Der Reflex auf dieses Rauschen ist fast immer derselbe: die Hochglanz-Präsentation. „Unsere Strategie 2026“. Eine Postkarte aus einem sonnigen Fantasialand, adressiert an eine Mannschaft, die gerade versucht, ihr Schiff durch einen Sturm zu navigieren.

Nur ist das keine Karte, sondern eine Kapitulation vor der Komplexität.

Eine gemeinsame Karte ist kein statisches Dokument. Sie ist ein dynamischer, kollektiver Prozess des Sensemaking. Ihre Funktion ist nicht, einen finalen Plan darzustellen, sondern die interne Reibung zu minimieren und die Organisation in die Lage zu versetzen, kohärent und mit hohem Tempo zu handeln. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass dezentrale Entscheidungen zu einem wirksamen Manöver führen und nicht im Chaos enden.

Diese Fähigkeit entsteht nicht durch eine Anweisung, sondern durch gezielte Interventionen. Sie wird in drei aufeinander aufbauenden Manövern geschmiedet, die das Fundament für kollektive Orientierung legen: von der Sprache über die Erfahrung bis zum Stresstest.

1. Die Kalibrierung des Lexikons

Eine gemeinsame Karte erfordert eine Sprache, die schneidet, nicht schwafelt. Wörter sind die Symbole auf der Karte, die Werkzeuge der Orientierung. Wenn Einheit nur „Teamgeist“ bedeutet und Schwerpunkt eine andere Vokabel für „Priorität“ ist, wird die Karte unbrauchbar. Jede Mehrdeutigkeit erzeugt Reibung. Sie zwingt zu Klärungsschleifen, verlangsamt Entscheidungen und führt zu Fehlinterpretationen in kritischen Momenten. Die Kalibrierung des gemeinsamen Lexikons ist kein semantisches Planspiel. Sie ist die Syntax für strategische Klarheit – die unverzichtbare Grundlage für jede Operation, die auf Tempo und Präzision angewiesen ist.

2. Die Expedition ins Terrain

Eine Karte, die im Konferenzraum entsteht, beschreibt nur den Konferenzraum. Echte Orientierung – echtes Fingerspitzengefühl – entsteht nur draußen, durch eine geteilte, sinnliche Erfahrung der Realität. Die Schlüsselfiguren aus Sales, Entwicklung und Führung müssen gleichzeitig dem ungefilterten Input ausgesetzt sein: den widersprüchlichen Signalen des Kunden, der spürbaren Frustration in der Werkshalle, der dröhnenden Stille eines Marktes. Erst diese gemeinsame Erfahrung schafft eine robuste, emotionale und kognitive Datengrundlage, die immun ist gegen die Verzerrungen individueller Reports. Ein gemeinsames Lagebild wird nicht aus Daten aggregiert. Es wird aus geteilter Erfahrung destilliert und bildet das Fundament für echte Einheit in der Wahrnehmung.

3. Das Wargame: der Stresstest der Orientierung

Eine kalibrierte Sprache und eine geteilte Erfahrung sind die Voraussetzungen, aber erst der Drucktest offenbart ihre Belastbarkeit. Das Wargame ist mehr als eine Simulation; es ist ein gezielter Angriff auf die kollektive „Immunität gegen Veränderung“ des Teams – auf die unsichtbare, selbstschützende Tendenz, unter Stress auf die alten, individuellen Karten zurückzugreifen. Indem du das Team mit einer mehrdeutigen Zukunft konfrontierst, die eine sofortige, gemeinsame Reaktion erzwingt, machst du die verborgenen Loyalitäten und die konkurrierenden Realitätsmodelle sichtbar.

Die Rolle von Führungskräften ist nicht die der Moderator:innen, sondern die der Analyst:innen im Hintergrund. Die Intervention ist das Debriefing. Wenn du dem Team den Spiegel seiner eigenen Orientierungsmuster vorhältst – die gebrochenen Kommunikationsketten, die stillen Allianzen, die dominanten Karten –, kollabiert die Illusion. In diesem Moment macht die Gruppe den entscheidenden Schritt: Sie hört auf, ihre Karten zu verteidigen, und fängt an, eine gemeinsame zu zeichnen. Das System der Orientierung selbst wird zum Objekt der gemeinsamen Betrachtung und Gestaltung.


Eine gemeinsame Karte ist somit kein Artefakt, sondern das Ergebnis disziplinierter, gemeinsamer Arbeit: ein Zustand permanenter, kollektiver Orientierung.

Die strategische Frage ist also nicht, wie du deine nächste Postkarte noch bunter gestaltest. Die entscheidende Frage lautet: Bist du ein:e Kurator:in für die Karten von gestern oder ein:e Architekt:in für den Prozess kollektiver Orientierung?

Ersteres ist die Verwaltung von Komplexität. Letzteres ist Führung.


Dieser Text ist die zweite von vier Feldnotizen zum Thema Auftragstaktik.