FN 29-1: Auftragstaktik ist ein Vertrag (Teil 1 von 4)

Angetrieben von einer tiefen Frustration klingen diese Fragen nach: „Wie kriegen wir hier endlich echte Auftragstaktik hin? Wie ermächtigen wir Menschen wirklich?“

Die Frage ist scharf. Die implizite Annahme dahinter ist jedoch der Denkfehler, der das Scheitern garantiert. Sie unterstellt, Auftragstaktik sei eine Methode, ein Set von Regeln, das sich von einem Kontext in den anderen kopieren lässt wie eine Software.

Das ist falsch. Auftragstaktik ist keine Methode, die du anwendest. Sie ist das Ergebnis einer ganz bestimmten Organisationskultur. Sie ist der sichtbare Ausdruck einer unsichtbaren Architektur. Wer versucht, die Taktik ohne die Kultur zu implementieren, fordert Menschen zur Autonomie in einem System auf, das ihnen im Kern misstraut. Das ist keine Ermächtigung. Das ist eine Falle.

Der Kern der Sache liegt darin, Auftrag als das zu verstehen, was er im Wesen ist: ein Vertrag. Eine Übereinkunft, die auf gegenseitigem Einverständnis beruht, nicht auf Befehl und Gehorsam. Und dieser Vertrag hat zwei Seiten und fußt auf zwei fundamentalen Voraussetzungen: Einheit und Fingerspitzengefühl.

Die erste Voraussetzung: Einheit (gegenseitiges Vertrauen)

Ein Vertrag ist ohne Vertrauen wertlos. In diesem Kontext bedeutet Vertrauen nicht, dass wir uns alle mögen. Es ist das gegenseitige, felsenfeste Zutrauen in die Kompetenz und Integrität des anderen. Es ist die Gewissheit, dass die andere Seite ihre Rolle im Chaos nicht nur versteht, sondern auch ausfüllen wird.

Dieses Vertrauen entsteht nicht in Wohlfühl-Workshops. Es wird im selben Feuer geschmiedet: in gemeinsamen, durchgestandenen Belastungsproben. Es ist das, was übrig bleibt, wenn sich niemand mehr hinter Prozessen oder PowerPoint-Folien verstecken kann. Führung vertraut darauf, dass das Team die Absicht versteht und mit aller Kraft verfolgt. Das Team vertraut darauf, dass die Führung einen sinnvollen Rahmen vorgibt und sie bei Fehlern, die aus Initiative entstehen, nicht fallen lässt.

Ohne diese Einheit ist die Aufforderung zur Autonomie eine Farce. Eine rhetorische Geste, deren Hohlheit jede:r im Raum spürt.

Die zweite Voraussetzung: Fingerspitzengefühl (meisterhafte Improvisation)

Ein Vertrag erfordert Handlungsfähigkeit. Du kannst keinen Vertrag mit jemandem schließen, der seinen Teil nicht erfüllen kann. Fingerspitzengefühl ist die tief verankerte, gelebte Kompetenz, die den Unterschied macht, wenn der Plan zerbricht. Es ist die Fähigkeit, nicht nur unklare Situationen zu ertragen, sondern in ihnen wirksam zu improvisieren, wo andere erstarren.

Diese Kompetenz entsteht nicht durch das Auswendiglernen von Regeln, sondern durch unermüdliche, bewusste Praxis in realitätsnahen Szenarien. Es ist die Fähigkeit, Muster zu erkennen, wo andere nur Rauschen sehen. Das Resultat unzähliger Wiederholungen des OODA-Loops, bis Orientierung und Handlung nahezu augenblicklich erfolgen. Wer diese Kompetenz bei seinen Leuten nicht aktiv kultiviert – durch anspruchsvolle Aufgaben, gnadenloses Feedback und Raum für Experimente –, kann nicht ernsthaft erwarten, dass sie die Verantwortung, die ihnen per „Auftrag“ übertragen wird, auch tragen können.

Die Architektur des Vertrags: vom Inhalt zum Ernstfall

Ein Vertrag, der auf Vertrauen und Kompetenz fußt, braucht einen klaren Inhalt. Dieser Inhalt besteht nicht aus einer detaillierten Aufgabenliste, sondern aus der radikalen Klarheit über zwei Dinge: das „Was“ und das „Warum“.

  • Das „Was“ ist die Absicht (Intent). Es ist die Beschreibung des Zielzustands. Nicht „Baue eine Brücke“, sondern „Sorge dafür, dass unsere Kräfte den Fluss an dieser Stelle sicher und schnell überqueren können“. Die Absicht definiert das Ergebnis, nicht die Aktivität. Sie gibt eine klare Richtung, ohne den Weg vorzuschreiben.
  • Das „Warum“ ist der Kontext (Purpose). Es ist die Antwort auf die Frage: „Wie fügt sich diese Absicht in das größere Bild ein?“ Der Erfolg der gesamten Operation hängt davon ab. Das „Warum“ ist der entscheidende Hebel für intelligente Initiative. Wenn die Lage sich ändert und das ursprüngliche „Was“ nicht mehr erreichbar oder sinnvoll ist, befähigt das „Warum“ die Handelnden, eine neue, bessere Entscheidung zu treffen, die immer noch der übergeordneten Absicht dient.

Führung liefert also ein kristallklares „Was“ und „Warum“. Das ist ihre Kernleistung. Das „Wie“ – die konkrete Ausführung, die Taktik, die kreative Lösung – bleibt die Domäne derjenigen, die den Vertrag annehmen. Genau darin liegt die Befähigung. Du gibst nicht Arbeit ab. Du überträgst einen klar definierten Verantwortungsraum und das Vertrauen, diesen meisterhaft auszufüllen.

An dieser Stelle muss allerdings eine ehrliche Unterscheidung getroffen werden. Im Militär schmiedet der Kontext den Vertrag. Die Notwendigkeit des Überlebens zwingt zur Einheit.

Im zivilen Umfeld ist der Kontext oft der größte Gegner. Der klimatisierte Kokon des Büros, in dem Vorgesetzte und Team nur eine Tür voneinander entfernt sitzen, erzeugt eine Illusion von Kontrolle. Er nährt toxische Präsenzkultur, fördert Mikromanagement und führt zu erlernter Hilflosigkeit. Der ideale Vertragsinhalt scheitert hier an der Realität, bevor er überhaupt erprobt werden kann.

Wer hier auf den Ernstfall wartet, hat bereits verloren. Führung muss ihn künstlich herbeiführen, ihn architektonisch erzwingen.

Ihre Aufgabe ist es, den Kokon gezielt aufzubrechen und das Team Situationen auszusetzen, die Einheit und Fingerspitzengefühl nicht nur fördern, sondern abverlangen. Das geschieht durch gezielte Manöver in der Realität:

  • Den Raum verlassen: Das Team muss dorthin, wo die Realität stattfindet – zum Kunden, in die Werkshalle, an den Ort, an dem das eigene Produkt tatsächlich genutzt oder ignoriert wird. Physische Distanz zur Führung und physische Nähe zum Problem sind die Voraussetzung für echte Autonomie.
  • Echte Einsätze schaffen: Statt planbarer Projekte braucht es Missionen mit realen Konsequenzen und ungewissem Ausgang. Ein „Tiger Team“ mit 48 Stunden zur Lösung einer eskalierten Kundenkrise. Ein „Red Team“ mit dem Auftrag, die Schwachstellen des eigenen Systems schonungslos aufzudecken.
  • Führung unter Feuer: Die Führungskraft kann diesen Prozess nicht aus der Ferne steuern. Sie muss selbst Teil des Manövers sein, die Reibung spüren und vorleben, und vorlebt, wie man unter Druck handelt – nämlich, indem sie dem Team und dem Prozess mehr vertraut als den eigenen, kurzschlüssigen Kontrollimpulsen.

Nur durch die bewusste und wiederholte Konfrontation mit der ungeschminkten Realität entsteht das, was im Militär selbstverständlich ist: eine im Feuer getestete Einheit. Eine Gruppe von Menschen, die gelernt hat, dass sie sich aufeinander verlassen muss, wenn der Plan zerbricht.

Erst dann wird der Vertrag von einer theoretischen Idee zu einer gelebten Praxis.

Die eigentliche Arbeit der Führung

Das rückt die ursprüngliche Frage in ein neues Licht. Die Aufgabe von Führung ist nicht, Auftragstaktik zu „übersetzen“. Das wäre eine bequeme Verlagerung der Verantwortung auf ein Werkzeug.

Die eigentliche Arbeit besteht darin, unermüdlich die Bedingungen für diesen Vertrag zu schaffen: eine Kultur der Einheit zu schmieden, indem das Team echten Herausforderungen ausgesetzt wird und Führung als Vorbild für Verlässlichkeit agiert. Und ein Umfeld zu gestalten, das Fingerspitzengefühl kultiviert, indem Fehler als Lernchancen behandelt und meisterhafte Leistung ermöglicht wird.

Ermächtigung ist kein Akt des Delegierens. Sie ist die stille Arbeit der Architekt:innen, die das Fundament und die Struktur errichten, auf denen ein solcher Vertrag erst möglich wird.

Die Frage lautet also nicht länger: „Wie übersetze ich Auftragstaktik?“

Die einzig relevante Frage ist eine an dich als Architekt:in: Gestaltest du eine Organisation, die einen solchen Vertrag überhaupt verdient? Und bist du die Art von Führungskraft, mit der deine besten Leute diesen Vertrag schließen wollen – und ihn auch erfüllen können?


Dieser Text ist die erste von vier Feldnotizen zum Thema Auftragstaktik. Vielen Dank an Patrick Riedl für seine pointierte Fragestellung und die ergänzenden Hinweise.