Keine Götter, nur Prophet:innen
25/11
Es gibt einen Moment in der Geschichte jeder Zivilisation, in dem die Götter sterben, aber die Altäre bleiben. Die Tempel stehen noch, die Rituale werden vollzogen, aber die Präsenz, jene unbestreitbare, transzendente Autorität, ist verschwunden. Was bleibt, ist ein Vakuum. Und Vakuen werden gefüllt.
Wir leben in einer solchen Zeit. Aber wir haben vergessen, dass wir es vergessen haben.
Die Aufklärung hat gründliche Arbeit geleistet. Gott ist tot, verkündete Nietzsche, und wir haben ihn getötet. Er meinte nicht nur den christlichen Gott. Er meinte jede Form absoluter, transzendenter Autorität – jede Instanz, die außerhalb des menschlichen Diskurses steht und ihn legitimiert.
Die Moderne hat alle Götter systematisch demontiert:
- den theologischen Gott durch die Wissenschaft
- den monarchischen Gott durch die Demokratie
- den ideologischen Gott durch den Postmodernismus
- den rationalen Gott durch die Komplexitätstheorie
Was bleibt, ist eine Welt ohne externe Referenzpunkte. Keine absoluten Wahrheiten. Keine unhinterfragbaren Autoritäten. Nur Menschen, Systeme, Narrative – alles konstruiert, alles verhandelbar, alles im Fluss.
Das ist, in der Theorie, die Befreiung. In der Praxis ist es unerträglich.
Der Mensch ist nicht für die Leere gebaut. Wir sind Mustererkennungsmaschinen, Sinnstiftungsapparate, Geschichtenerzähler:innen. Wir brauchen Orientierung. Wir verlangen nach Autorität. Nicht aus Schwäche, sondern aus der strukturellen Notwendigkeit, in einer unendlich komplexen Welt handlungsfähig zu bleiben.
Wenn die Götter verschwinden, erscheinen die Prophet:innen. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Ein Gott spricht aus einer Position jenseits des Systems. Seine Autorität ist transzendent, unanfechtbar, absolut. Er ist die Ordnung selbst.
Prophet:innen sprechen aus einer Position innerhalb des Systems. Ihre Autorität ist charismatisch, performativ, relativ. Sie verkünden die Ordnung, aber sie sind sie nicht.
Und genau hier liegt das Problem: Wir behandeln Prophet:innen wie Götter. Wir projizieren auf sie die Autorität, die wir verloren haben. Wir erwarten von ihnen Antworten, die sie nicht geben können. Wir verlangen Gewissheit, wo nur Interpretation möglich ist.
Betrachten wir die Figuren, die in der öffentlichen Vorstellung den Raum einnehmen, den einst Staatsmänner, Philosoph:innen oder religiöse Führer:innen innehatten: Die Tech-Milliardär:innen. Die „Visionär:innen“. Die Gründer:innen.
Sie sprechen nicht mehr nur über Produkte oder Märkte. Sie sprechen über die Zukunft der Menschheit. Über Bewusstsein. Über die Rettung der Zivilisation. Über die Kolonisierung des Mars als Backup-Plan für die Spezies. Ihre Produktpräsentationen sind Predigten. Ihre Interviews sind Offenbarungen. Ihre Tweets sind Schriftrollen.
Und wir hören zu. Nicht weil sie recht haben – sondern weil wir wollen, dass jemand recht hat. Weil die Komplexität der Welt so erdrückend ist, dass die Vorstellung, es gäbe jemanden, der den Überblick hat, der den Plan kennt, der die Lösung besitzt, eine unerträgliche Erleichterung darstellt.
Das Heilsversprechen der Propheten folgt immer demselben Muster:
- Die Diagnose: Die Welt ist kaputt. Das System funktioniert nicht. Die alten Wege führen in den Abgrund.
- Die Offenbarung: Ich habe verstanden, was andere nicht sehen. Ich habe Zugang zu einer höheren Einsicht (durch Technologie, durch Meditation, durch „First Principles Thinking“).
- Die Lösung: Folgt mir. Kauft mein Produkt. Adoptiert mein Framework. Investiert in meine Vision.
- Das Versprechen: Wenn genug Menschen mitmachen, wird die Welt transformiert. Nicht optimiert – transformiert.
Das ist keine Geschäftsstrategie, sondern Theologie. Aber es ist Theologie ohne Gott. Es ist ein Heilsversprechen ohne transzendente Garantie. Prophet:innen können scheitern. Prophet:innen können lügen. Prophet:innen können sich irren. Und doch behandeln wir sie, als könnten sie es nicht.
Hier wird es gefährlich. Hier wird es politisch. Wenn Menschen lange genug in der Unsicherheit leben, in einer Welt ohne Götter, mit nur unzuverlässigen Prophet:innen, entsteht eine tiefe, oft unbewusste Sehnsucht: die Sehnsucht nach jemandem, die einfach entscheiden. Die nicht diskutieren, nicht verhandeln, nicht relativieren. Die sagen: „So ist es. Punkt.“
Das ist die Anziehungskraft des Autoritären. Nicht seine Ideologie. Seine Struktur. In unseren westlichen Demokratien, die in endlosen Debatten, Polarisierung und Handlungsunfähigkeit versinken, wirkt die Fähigkeit, Dinge zu tun, wie Infrastruktur zu bauen, Strategien umzusetzen, eine kohärente Vision zu artikulieren, wie eine göttliche Eigenschaft.
Die Bewunderung ist nicht rational. Sie ist strukturell. Sie entspringt der Erschöpfung mit einer Welt, in der alles verhandelbar ist, in der jede Wahrheit eine Perspektive ist, in der jede Entscheidung eine Kompromiss ist.
Der Autoritäre verspricht: „Ich bin der Gott, den ihr verloren habt.“ Und ein erschöpfter Teil der Psyche antwortet: „Endlich.“ Aber hier liegt die Verdrängung: Die Sehnsucht nach dem Autoritären ist gleichzeitig die Anerkennung seines Schreckens.
Wir wissen, dass autoritäre Systeme Freiheit vernichten. Wir wissen, dass sie Dissens unterdrücken. Wir wissen, dass sie auf Überwachung, Kontrolle und Gewalt basieren. Und doch: Wenn die Züge pünktlich fahren, wenn die Wirtschaft wächst, wenn die Straßen sauber sind – dann flüstert eine Stimme: „Vielleicht ist es den Preis wert.“
Das ist die ultimative Kapitulation. Nicht vor einem Gott, sondern vor Prophet:innen, die vorgeben, einer zu sein. Nicht aus Überzeugung, sondern aus Erschöpfung.
Das Problem mit Prophet:innen ist nicht, dass sie existieren. Das Problem ist, dass wir vergessen haben, was sie sind. Prophet:innen sind Menschen mit einer Vision. Nicht mehr. Nicht weniger. Sie können inspirieren. Sie können mobilisieren. Sie können Möglichkeiten aufzeigen, die andere nicht sehen.
Aber sie können nicht die Wahrheit sein. Sie können sie nur suchen. Der Moment, in dem wir Prophet:innen wie einen Gott behandeln, in dem wir ihre Worte für unfehlbar halten, ihre Vision für alternativlos, ihre Autorität für absolut, ist der Moment, in dem wir die Aufklärung verraten.
Und das Tragische ist: Wir tun es nicht aus Dummheit. Wir tun es aus Not. Wenn wir keine Götter mehr haben, wenn alle Autorität konstruiert, alle Wahrheit perspektivisch, alle Ordnung verhandelbar ist, wie navigieren wir dann?
Die post-konventionelle Antwort lautet: Wir halten die Spannung aus. Wir akzeptieren die Unsicherheit. Wir lernen, im Nebel zu tanzen. Aber das ist eine Antwort für Individuen, die die psychologische Kapazität dafür entwickelt haben. Was ist mit Gesellschaften? Was ist mit Millionen von Menschen, die diese Kapazität nicht haben, nicht haben können, nicht haben wollen?
Die unbequeme Wahrheit ist: Die meisten Menschen brauchen Prophet:innen. Sie brauchen jemanden, die sagen: „Folgt mir, ich kenne den Weg.“ Die Frage ist also nicht, ob wir Prophet:innen haben werden, sondern, welche Art von Prophet:innen wir wählen?
Die, die ihre eigene Fehlbarkeit anerkennen? Oder die, die vorgeben, Götter zu sein? Die, die Systeme schaffen, in denen andere wachsen können? Oder die, die Systeme schaffen, in denen andere gehorchen müssen? Die, die das Spiel transformieren wollen? Oder die, die es nur perfektionieren wollen?
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„Here lies a toppled God“ – danke Patrick für das Gespräch, das zur Idee zu diesem Post führte.