„Der Geldwechsler und seine Frau“ (Massysm Quentin, 1514) [Glitch]„Der Geldwechsler und seine Frau“ (Massysm Quentin, 1514) [Glitch]

In der Spätmoderne vollzieht sich eine merkwürdige Transformation. Die neuen Herrscher:innen des Kapitals sprechen nicht mehr die Sprache roher Akkumulation. Sie meditieren, zitieren buddhistische Weisheiten, erschaffen „psychologisch sichere Räume“ und predigen die Transformation von innen. Ihre Autobiografien lesen sich wie Handbücher zur Selbstverwirklichung, garniert mit Quartalsberichten.

Es ist verführerisch, in diesen Narrativen den Beweis für eine Evolution des Bewusstseins zu sehen – eine Avantgarde, die das System von innen heraus transformiert. Doch eine nüchterne, post-zynische Analyse offenbart eine weitaus komplexere und beunruhigendere Wahrheit.

Betrachten wir einen prototypischen Fall: Ein Unternehmer baut acht separate Milliarden-Dollar-Unternehmen. Er spricht von „Problemen als Freunden“, von der Schaffung einer Kultur, in der „wir die Konkurrenz töten, nicht uns gegenseitig“. Er meditiert täglich, praktiziert kognitive Verhaltenstherapie, und seine Meetings enden mit Dankbarkeitsübungen im Kreis. Seine Mitarbeiter:innen erhalten großzügige Aktienoptionen, gesperrt für fünf Jahre, um langfristiges Denken zu fördern.

Oberflächlich betrachtet ist das ein leuchtendes Beispiel für die Integration von Weisheit und Wirtschaft. Bei genauerer Betrachtung ist es die Perfektionierung eines Werkzeugkastens. Diese Praktiken funktionieren außerordentlich gut. Die Frage ist nur: Wofür funktionieren sie?

Der Spätkapitalismus hat eine bemerkenswerte Fähigkeit entwickelt: Er absorbiert jede Kritik, jede spirituelle Praxis, jede psychologische Einsicht und verwandelt sie in einen Wettbewerbsvorteil. Was als Befreiung beginnt, endet als Optimierung.

Eine „psychologisch sichere“ Unternehmenskultur ist nicht primär ein ethischer Selbstzweck. Sie ist, unter den Bedingungen der Wissensökonomie, schlicht effizienter. Mitarbeiter, die sich sicher fühlen, teilen Informationen schneller. Sie bleiben länger und arbeiten härter, nicht weil sie müssen, sondern weil sie es wollen. Das ist keine Transformation des Systems, sondern seine Perfektionierung.

Die Meditation am Morgen, die den Geist weitet „vom Atom bis zum Multiversum“, mündet nicht in einer Neuausrichtung der Prioritäten, sondern in einem schärferen Fokus auf Quartalsziele. Die Fähigkeit, Paradoxien zu halten, wird nicht genutzt, um die Logik der Akkumulation zu hinterfragen, sondern um sie geschickter zu navigieren.

Hier liegt der Kern der Täuschung: Die kognitive Struktur mag hochentwickelt sein – die Fähigkeit, Systeme zu analysieren, Widersprüche zu synthetisieren, metasystematisch zu denken. Doch die Bedeutungskonstruktion, die mit dieser Struktur erschaffen wird, bleibt konventionell verhaftet.

Es ist der Unterschied zwischen Großmeister:innen, die Schach auf einem Niveau spielen, das für Normalsterbliche unbegreiflich ist, und jemandem, der fragt: „Warum spielen wir eigentlich Schach?“

Die erleuchteten Milliardär:innen sind die Großmeister:innen. Sie haben die Regeln des Spiels so tief verinnerlicht, dass sie sie transzendiert zu haben scheinen, obwohl sie nur gelernt haben, sie meisterhaft zu beherrschen. Die Frage nach dem Spiel selbst, nach den Externalitäten und verdrängten Kosten, die andere zahlen, bleibt ungestellt.

Die subtilste Form der Gefangenschaft ist die, die sich als Freiheit tarnt. Wer bestimmt, was „Erfolg“ bedeutet? In welchem Spiegel sehen sich die Milliardär:innen, wenn sie morgens aufwachen?

Die Antwort ist: im Spiegel ihrer Peer-Group. Die anderen CEOs. Die Investor:innen. Die Ikonen. Das Streben ist nicht mehr primitiv im Sinne von: „Ich will mehr Geld als mein Nachbar.“ Es ist raffiniert: „Ich will der legendärste Spieler in einem Spiel sein, das von den klügsten Menschen der Welt respektiert wird.“

Das ist hochentwickeltes mimetisches Denken: die Abhängigkeit von der Anerkennung durch ein System, dessen Spitze sie selbst darstellen. Es ist ein goldener Käfig, gebaut aus Bewunderung und Bestätigung, der umso schwerer zu verlassen ist, je komfortabler er wird.

Die ultimative Bedeutungskonstruktion wäre die Neudeutung des gesamten Projekts. Die Frage würde sich verschieben von „Wie optimiere ich meine Organisation?“ hin zu: „Welche Welt erschaffe ich durch mein Handeln, und ist das die Welt, in der ich leben will?“

Diese Frage wird nicht gestellt. Stattdessen geht es darum, „Trends zu jagen“, „Probleme als Chancen“ zu sehen oder „den Wettbewerb abzuhängen“. Alles bleibt reaktiv, opportunistisch und innerhalb der bestehenden Logik.

Die Werkzeuge der Selbstreflexion werden auf die Prozesse angewendet, nicht auf das fundamentale Projekt selbst. Es wird meditiert, um besser zu führen. Es wird therapiert, um Perfektionismus zu überwinden, der der Effizienz im Weg steht. Es wird eine bessere Kultur geschaffen, um die Konkurrenz zu schlagen. Das ist weniger eine Transformation als vielmehr Wartung.

Wenn Richard Morgans Altered Carbon wahr würde, wenn Bewusstsein digitalisiert, Körper austauschbar und Unsterblichkeit käuflich wird, dann würden die erleuchteten Milliardär:innen die ersten sein, die sich hochladen lassen. Nicht so sehr aus Angst vor dem Tod, sondern aus Liebe zum endlichen Spiel.

Bis dahin gilt: Misstraue den Heilsversprechen von denen, die das System perfektioniert haben. Ihre Weisheit ist real, aber sie dient einem konventionellen Zweck. Ihre Meditation ist echt, aber sie endet in der Optimierung. Ihre Kultur ist menschlich, aber sie ist ein Werkzeug.

Sie belügen sich selbst – geschützt durch ein Narrativ, das so überzeugend ist, dass es den letzten, schmerzhaftesten Schritt der Selbstreflexion überflüssig macht: die Erkenntnis, dass sie nicht Transformator:innen sind, sondern Perfektionator:innen.

Das System wird nicht optimiert; es wird vollendet. Und in dieser Vollendung liegt seine größte Gefahr: Es wird unsichtbar. Es tarnt sich als Weisheit. Es spricht die Sprache der Befreiung, während es die Ketten neu schmiedet – leichter, eleganter, bequemer.

Die erleuchteten Milliardär:innen sind keine Bösewichte im gewöhnlichen Sinne. Sie sind Symptome. Und das macht sie gefährlicher als jede:r Antagonist:in, die Morgan sich hätte ausdenken können.

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