FN 91: Das Gremium als Summe seiner Ängste

Feldnotiz

Wir sehen uns nicht nur einem System von Verhaltensweisen gegenüber, sondern einem System von Überzeugungen. Um das Verhalten zu verstehen, müssen wir die Überzeugungen verstehen.

Robert Kegan & Lisa Lahey, „An Everyone Culture“

Du hast eine Idee. Klar, datengestützt, logisch zwingend. Du trägst sie in das zuständige Gremium. Du argumentierst, präsentierst, appellierst. Und dann siehst du zu, wie die Idee stirbt. Langsam zerrieben von Bedenken, auf den nächsten Monat verschoben oder zu einem zahnlosen Kompromiss verstümmelt.

Die erste Analyse lautet oft: Das Gremium ist ein Immunsystem, das auf Selbsterhalt optimiert ist. Dein Vorstoß ist aus dieser Perspektive kein Fortschritt, sondern ein Fremdkörper, der abgewehrt werden muss. Diese Diagnose ist korrekt, aber unvollständig. Sie beschreibt das Symptom, nicht die Pathologie. Um den Hebel zu finden, müssen wir tiefer gehen. Ein Gremium hat keine Psyche. Es hat kein eigenes Immunsystem. Was es hat, ist eine Ansammlung von Individuen, von denen jede:r ein eigenes, perfekt funktionierendes psychologisches Immunsystem betreibt.

Das, was du als irrationalen, kollektiven Widerstand erlebst, ist die logische Summe dieser individuellen Schutzstrategien. Deine Kolleg:innen agieren nicht gegen deine Idee. Sie agieren für ein verborgenes, für sie aber ungleich wichtigeres Ziel. Sie haben, um es mit Kegan und Lahey zu sagen, ein „Competing Commitment“ – eine konkurrierende Verpflichtung, die aus einer tiefen, oft unbewussten „Big Assumption“ über ihre eigene Sicherheit im System gespeist wird.

Betrachten wir die drei häufigsten, verborgenen Ziele, die im Maschinenraum von Gremienentscheidungen laufen:

Das ungesagte Ziel #1: Status und Relevanz sichern

  • Die beobachtbare Taktik: Endlose Detailfragen. Forderungen nach mehr Daten. Fokus auf potenzielle Schwächen, nicht auf Chancen.
  • Die Competing Commitment: „Ich bin verpflichtet, niemals als unvorbereitet, unkritisch oder intellektuell unterlegen dazustehen.“
  • Die Big Assumption dahinter: „Mein Wert in diesem Raum basiert auf meiner Fähigkeit, Fehler in den Vorschlägen anderer zu finden. Wenn ich eine Idee ohne kritische Prüfung durchwinke und sie scheitert, sinkt mein Ansehen irreparabel.“

Der Angriff auf deine Idee ist hier eine Verteidigung der eigenen Relevanz. Dein Plan ist kein Geschenk, sondern eine Prüfung.

Das ungesagte Ziel #2: politisches Kapital schützen

  • Die beobachtbare Taktik: Vage Zustimmung, aber keine verbindliche Zusage. Abwarten, in welche Richtung sich die mächtigen Stimmen im Raum bewegen. Das Gespräch nach dem Meeting suchen.
  • Die Competing Commitment: „Ich bin verpflichtet, niemals meine Beziehungen zu einflussreichen Akteur:innen oder meine Position im informellen Machtgefüge zu gefährden.“
  • Die Big Assumption dahinter: „Eine offene Konfrontation oder die Unterstützung einer kontroversen Idee kann Allianzen zerstören, die für mein langfristiges Überleben hier wichtiger sind als der Erfolg dieses einen Projekts.“

Die Initiative wird durch den Filter der politischen Risikobewertung analysiert. Deine Strategie ist nur eine Variable in einer komplexeren Gleichung.

Das ungesagte Ziel #3: persönliche Ressourcen schonen

  • Die beobachtbare Taktik: Zustimmung zum Prinzip, aber Bedenken bei der Umsetzung. Betonung des hohen Aufwands. Vorschlag, die Idee in einem kleineren Rahmen zu „pilotieren“.
  • Die Competing Commitment: „Ich bin verpflichtet, mich und mein Team vor Überlastung und unrealistischen Erwartungen zu schützen.“
  • Die Big Assumption dahinter: „Jede neue Initiative bedeutet für mich und mein Team mehr Arbeit. Wenn ich jetzt ‚Ja‘ sage, ohne den Aufwand zu begrenzen, brennt mein Team aus, und die Verantwortung für das Scheitern fällt auf mich zurück.“

Dein Vorschlag wird nicht nach seinem strategischen Wert, sondern nach seinen operativen Kosten bewertet.

Die Ausrichtung deiner Strategie folgt dieser Realität. Deine Rolle verschiebt sich vom Verkäufer einer Idee zum Diagnostiker der verborgenen Competing Commitments im Raum.

Die operative Frage wird damit: „Welches verborgene Problem löst das aktuelle Verhalten für die beteiligten Personen – und wie kann meine Initiative so gestaltet werden, dass sie ihre fundamentalen Sicherheitsbedürfnisse nicht bedroht, sondern idealerweise sogar bedient?“

Das ist der eigentliche Glitch: Du versuchst, eine technische Lösung für ein zutiefst menschliches, adaptives Problem zu verkaufen. Die Kunst liegt darin, die eigene Initiative als Lösung für die ungesagten Probleme der anderen zu rahmen. Das ist keine Manipulation, sondern strategische Empathie.