FN 92: Strategie ist kein Substantiv

Feldnotiz

Du studierst die Landkarte. Gegner:innen studieren dich.

Das ist der primäre Glitch im Denken über Strategie: der Glaube, sie sei ein Objekt, ein Plan, eine Theorie – etwas, das wir besitzen und ausrollen können. Eine Sache. Ein Substantiv.

Strategie ist ein Verb. Ein fortlaufender Prozess des Wahrnehmens, Orientierens und Handelns in einem Feld aus konkurrierenden Absichten. Die Landkarte ist nur eine Projektion dieses Feldes. Gespielt wird im Terrain. Und im Terrain sind deine Analyse, deine Kultur und deine blinden Flecken genauso Teil der Topografie wie die der Gegenseite.

Die historische Obsession mit Definitionen von „Strategie“ – von den Byzantinern über Jomini bis Clausewitz – ist oft nur eine intellektuelle Flucht vor dieser unbequemen Wahrheit. Sie katalogisiert die Werkzeuge, aber ignoriert die Hand, die sie führt. Und die Augen, die sie lenken.

Der Scanner: die Illusion der „größeren Bataillone“ dekonstruieren

Um im Terrain zu operieren, brauchst du keinen besseren Plan. Du brauchst einen besseren Scanner. Ein Werkzeug, um die Dimensionen des Konflikts zu erfassen, die auf keiner offiziellen Karte verzeichnet sind. Colin S. Gray kartierte siebzehn solcher Dimensionen. Betrachte sie nicht als Checkliste, sondern als Frequenzen, auf denen du die Realität abtasten kannst.

Sie lassen sich in drei Cluster falten:

Cluster 1: die Hardware des Systems

Politik, Gesellschaft, Geographie, Wirtschaft & Logistik, Demographie, Technologie

Das ist die scheinbar objektive Ebene. Ressourcen, Bevölkerungszahlen, industrielle Kapazität, geografische Lage. Die Ebene, auf der die Verfügbarkeit von Mikrochips für einen Drohnenschwarm genauso entscheidend sein kann wie die Demographie junger, arbeitsloser Männer. Hier wird oft der Mythos der „größeren Bataillone“ geboren. Er ist verlockend, weil er messbar scheint. Und er ist fast immer eine Falle. Die entscheidenden Fragen sind daher: Wofür wird die Quantität eingesetzt? Und mit welchem Willen?

Cluster 2: das Operating System

Kultur, Ethik, Kommandostruktur, Organisation, Nachrichtendienst

Das ist das unsichtbare Betriebssystem, das die Hardware steuert. Die Kultur, die entscheidet, ob Niederlagen als Lernschleife oder als zu vertuschende Schande behandelt werden. Die Kommandostruktur, die Information als Waffe nach oben oder als Ressource nach unten fließen lässt. Die ethischen Grenzen, die Akteur:innen bereit sind zu überschreiten – und welche nicht. Hier entscheidet sich, ob eine überlegene Technologie brillante Manöver ermöglicht oder in bürokratischer Reibung verglüht.

Cluster 3: der Faktor Mensch

Menschen, Doktrin & Theorie, Zeit, Friktion & Zufall

Die Ebene der Akteur:innen und der unkontrollierbaren Kräfte. Der unbedingte Wille einer unterlegenen Kraft gegen die zersplitterte Aufmerksamkeit einer überlegenen. Die Doktrin, die im Kopf von General:innen zur zweiten Natur geworden ist – oder zum Dogma erstarrt. Und die ewigen Variablen, die Clausewitz als Friktion und Boyd als Teil des Nebels beschrieben: Zufall, Unsicherheit, Zeit.

Strategie ist die Kunst, die Wechselwirkungen zwischen diesen Clustern zu lesen und zu nutzen. Wer nur auf die Hardware starrt, verliert.

Die Diagnose: warum Supermächte verlieren

Die Geschichte ist ein Friedhof von Akteur:innen, die ihre Hardware für das gesamte Spiel hielten. Die folgenden Fragen sind keine historischen Rätsel. Sie sind Diagnose-Tools für die Gegenwart.

  • Vietnam & Afghanistan: Der Wille zur Unabhängigkeit schlägt die technologische Übermacht, weil das Operating System (Kultur, Durchhaltewillen) der scheinbar schwächeren Seite auf einer Frequenz sendete, die die Hardware-fokussierte Logik der Supermächte nicht dekodieren konnte. Die eine Seite spielte um den Sieg, die andere um das reine Nicht-Verlieren. Diese Ziele definieren zwei inkommensurable Spiele.
  • Suez 1956: Briten und Franzosen mussten eine militärisch erfolgreiche Operation abbrechen, weil sie die Dimension der Hardware (Finanzsystem) ihres vermeintlichen Verbündeten USA als Waffe gegen sich selbst ignoriert hatten. Sie spielten Schach auf einem Brett, während die USA die Kontrolle über die Schwerkraft hatten.
  • Algerien 1962: Frankreich gab eine fast gewonnene militärische Auseinandersetzung auf, weil der politische Wille im Heimatland (Cluster 1) erodierte und die Operating System-Frage – „Was für eine Nation wollen wir sein?“ – wichtiger wurde als der militärische Sieg im Feld. Die Generale, die putschten, verstanden die Logik des Schlachtfelds, aber nicht die Physik ihres eigenen politischen Systems.

Die Anwendung: den Scanner auf dich selbst richten

Das Studium dieser Fälle ist nützlich. Aber es wird gefährlich, wenn es dich zum souveränen Beobachter macht, der aus sicherer Distanz die Fehler der Vergangenheit analysiert. Das ist die letzte und subtilste Form der intellektuellen Feigheit.

Die eigentliche strategische Arbeit fängt an, wenn du den Scanner auf dich selbst richtest. Die Analyse wird wirksam, wenn du die Fragen von der Geschichte auf dich selbst überträgst:

  • Welche kulturellen Annahmen (Operating System) in meinem Team, meinem Unternehmen, meinem Leben sind so selbstverständlich, dass ich sie für Realität halte?
  • In welcher Dimension (z. B. politisches Kapital vs. finanzielle Ressourcen) bin ich extrem stark, aber blind für die Waffen, die andere in einer anderen Dimension gegen mich kalibrieren?
  • Was ist die dominante Doktrin in meinem Kopf? Wo ist sie ein nützliches Werkzeug und wo ein starres Dogma, das mich daran hindert, die Realität zu sehen, wie sie ist?

Strategie zu studieren, um Pläne zu machen, ist Handwerk. Strategie zu studieren, um die eigene Wahrnehmung zu kalibrieren, ist der Eingang zur Meisterschaft. Dabei gilt die Direktive, die Clausewitz formulierte: Der Zweck ist es, den Geist „bei seiner Selbsterziehung zu leiten, nicht aber ihn auf das Schlachtfeld zu begleiten.“

Deine Selbsterziehung fängt mit einer einzigen, brutalen Frage an: Welche Dimension meines Denkens habe ich bisher übersehen?