Die Löschung
Die Tafel war alt.
Das war das Erste, was ihm auffiel, als die Gleichung sich selbst zu Ende schrieb – nicht die Perfektion der Symbole, nicht die Eleganz der Vereinigung, sondern die Tatsache, dass die Tafel alt war, gekratzt, mit Rillen von tausend anderen Gleichungen, die hier gestanden hatten, gelöst worden waren, wieder gelöscht, vergessen. Generationen von Studierenden hatten hier gestanden, hatten ihre Fehler gemacht, ihre Durchbrüche gehabt, ihre kleinen Siege über die Unwissenheit gefeiert.
Die Kreide in seiner Hand war fast aufgebraucht.
Er betrachtete den kleinen Stummel – vielleicht noch zwei Zentimeter, gelb, billig, die Art, die man in Zehnerpackungen kaufte und die immer zu schnell abbrach. Er hatte sie heute Morgen aus der Schachtel genommen, hatte nicht gewusst, dass sie die letzte sein würde, die er je benutzen würde. Nicht weil er sterben würde, sondern weil nach dieser Gleichung keine weiteren mehr nötig waren.
Das Staubkorn tanzte vor seinen Augen.
Er kannte diesen Tanz – hatte ihn als Student geliebt, dieses zufällige Zittern der Partikel in der Luft, diese Brown'sche Bewegung, die so chaotisch aussah und doch so elegant beschreibbar war. Wahrscheinlichkeiten statt Gewissheiten. Tendenzen statt Schicksale. Eine Welt, in der man sagen konnte „vermutlich“ und „ungefähr“ und „soweit wir wissen“, und diese Einschränkungen waren keine Schwächen gewesen, sondern Einladungen. Einladungen zu mehr Fragen, mehr Experimenten, mehr Staunen.
Das Staubkorn hörte auf zu tanzen.
Hing einfach da. Bewegungslos. Als hätte jemand die Pause-Taste gedrückt, aber nur für dieses eine Partikel, nur in diesem einen Moment. Er blinzelte. Das Staubkorn hing immer noch. Seine Augen tränten – wann hatte er zuletzt geblinzelt? –, aber das Staubkorn ignorierte alle Luftbewegungen, alle thermischen Strömungen, alle Quantenfluktuationen, die es hätten bewegen sollen.
Er hob seine Hand, um es wegzuwischen.
Die Hand bewegte sich, aber anders. Nicht flüssig. Nicht organisch. Sie bewegte sich wie auf Schienen, wie ein Zug, der einer vorgegebenen Route folgt, und er konnte – zum ersten Mal in seinem Leben konnte er es sehen – die Trajektorie. Nicht berechnen. Sehen. Als wäre sie bereits da, bereits geschehen, und seine Hand folgte ihr nur nach, spielte eine Rolle in einem Film, der längst gedreht war.
Er ließ die Hand sinken.
Dachte an seine Studienzeit zurück. An die Nächte in der Bibliothek, wo er und seine Freunde über Determinismus debattiert hatten, über freien Willen, über die Frage, ob das Universum ein Uhrwerk war oder ein Garten. Er hatte immer für den Garten argumentiert. Für Wachstum, Überraschung, die Möglichkeit, dass morgen anders sein könnte als heute, nicht weil die Gesetze sich änderten, sondern weil die Gesetze Raum ließen. Spielraum. Unschärfe.
Die Gleichung auf der Tafel ließ keinen Raum.
Sie war vollständig. Jede Kraft vereint. Jede Konstante erklärt. Jede Frage beantwortet. Sie war das, wonach Einstein gesucht hatte, wonach Hawking gesucht hatte, wonach er selbst gesucht hatte, sein ganzes Leben lang. Die Theorie von Allem.
Und sie war ein Todesurteil.
Nicht für ihn – er würde weiterleben, würde essen und schlafen und altern. Aber für die Welt, die er gekannt hatte. Die Welt der offenen Fragen. Die Welt, in der „Ich weiß nicht“ keine Schande war, sondern ein Anfang. Die Welt, in der Staubkörner tanzen durften, ohne um Erlaubnis zu fragen.
Er griff nach dem Schwamm.
Der Schwamm war auch alt – durchlöchert, verfärbt, roch nach Kreidestaub und Zeit. Er hatte ihn vor Jahren gekauft, in einem kleinen Laden in der Innenstadt, der wahrscheinlich längst geschlossen war. Alles schloss irgendwann. Alles endete. Aber das hier war ein anderes Ende. Kein natürliches Auslaufen, sondern ein Einfrieren. Ein Stoppen mitten im Satz.
Der erste Wisch löschte den letzten Term.
Das Staubkorn zuckte. Nur ein winziges Zucken, aber es war Bewegung, war Leben, war die Rückkehr von etwas, das er nicht benennen konnte, aber dessen Abwesenheit er gespürt hatte wie man die Abwesenheit von Licht spürt, wenn man in einen dunklen Raum tritt.
Er wischte weiter.
Nicht schnell. Nicht panisch. Mit der gleichen Sorgfalt, mit der er die Gleichung geschrieben hatte. Jeder Term verschwand unter dem Schwamm, wurde zu Schmiere, zu Schatten, zu Erinnerung. Die Vereinigung der Kräfte. Die Erklärung der Konstanten. Die Auflösung aller Paradoxe.
Sein Herz stolperte.
Fand einen neuen Rhythmus. Einen, der nicht in der Gleichung gestanden hatte. Einen, der vielleicht nirgendwo stand, der einfach nur war, hier, jetzt, in diesem Körper, der wieder lernte, unvorhersehbar zu sein.
Die Luft im Raum veränderte sich. Wurde weniger dicht. Oder dichter. Er konnte es nicht sagen. Aber sie bewegte sich wieder, strömte wieder, trug wieder den Geruch von Kreidestaub und altem Papier und dem Kaffee, den er heute Morgen getrunken hatte, als die Welt noch Fragen hatte.
Als die Tafel fast leer war, hielt er inne.
Ein Term blieb stehen. Er hatte ihn nicht absichtlich stehengelassen – oder doch? Kausalität war wieder mehrdeutig geworden, Gott sei Dank.
∞ ≠ ∞
Er betrachtete die Ungleichung. Erinnerte sich an eine Vorlesung über Cantors Mengenlehre, vor zwanzig Jahren vielleicht, oder dreißig. Der Professor hatte über verschiedene Größen von Unendlichkeit gesprochen, und die Studierenden hatten gelacht, hatten gedacht, es sei ein Witz. Wie konnte etwas unendlicher sein als unendlich?
Aber vielleicht war das der Punkt. Vielleicht waren manche Wahrheiten zu groß für Gleichheit. Zu wild für Gleichungen. Zu lebendig für Vollständigkeit.
Er trat zurück.
Die Kreidereste auf der Tafel bildeten Muster – Geister von Symbolen, Schatten von Wahrheiten, die einmal absolut gewesen waren und jetzt nur noch Andeutungen waren. Sie sahen aus wie eine Landkarte von einem Ort, der nicht mehr existierte. Oder noch nicht. Oder beides.
Die Stelle, wo die vollständige Gleichung gestanden hatte, fühlte sich anders an.
Nicht warm oder kalt. Nicht hell oder dunkel. Einfach anders. Als wäre dort ein Loch in der Welt, aber kein leeres Loch, sondern eines, das auf etwas wartete. Auf Füllung. Auf Wachstum. Auf die Möglichkeit, dass etwas Neues entstehen könnte, etwas, das niemand geplant hatte.
Er setzte sich auf den Boden.
Der Boden war kalt – Linoleum, abgenutzt, mit Flecken von verschütteten Getränken und Spuren von tausend Schuhen. Er lehnte sich gegen die Wand, betrachtete die Tafel, die Narbe, die er geschlagen hatte, indem er die Wahrheit löschte.
Draußen ging die Sonne unter.
Er konnte sie nicht sehen – das Fenster zeigte nach Norden –, aber er wusste es. Spürte es. Nicht weil die Gleichung es vorhergesagt hatte, sondern weil sein Körper es wusste, dieser alte, unvollkommene Körper, der Millionen Jahre Evolution in sich trug, der gelernt hatte, die Zeit zu spüren, ohne sie zu messen.
Er schloss die Augen.
Hörte seinem Atem zu. Unregelmäßig. Manchmal tief, manchmal flach. Ein Rhythmus ohne Partitur. Und irgendwo in seinem Kopf, in diesem drei Pfund schweren Klumpen aus Neuronen und Glia und Erinnerungen, feuerten Zellen in Mustern, die niemand vorhersagen konnte, die vielleicht niemand vorhersagen sollte.
Als er die Augen wieder öffnete, hatten die Kreidereste sich bewegt.
Nur ein bisschen. Nur genug, um neue Formen anzudeuten. Fast wie Buchstaben. Fast wie eine Nachricht. Aber nicht ganz. Nie ganz.
Er stand auf.
Klopfte sich den Staub von der Hose. Ging zur Tür. Seine Hand lag auf der Klinke – kalt, Metall, abgegriffen von tausend Händen vor ihm. Er drehte sich um, ein letztes Mal.
Die Ungleichung war noch da: ∞ ≠ ∞
Darunter: Schatten. Muster. Möglichkeiten.
Er lächelte. Nicht aus Freude. Aus Nostalgie. Aus der Sehnsucht nach einer Welt, die er gerade gerettet hatte, indem er sie unvollständig gemacht hatte.
„Danke“, sagte er leise.
Zu wem? Zu was? Er wusste es nicht. Vielleicht zu der Welt selbst. Zu der Möglichkeit von Unwissenheit. Zu dem Recht, nicht alles zu verstehen.
Dann ging er.
Die Tür fiel ins Schloss. Der Raum blieb zurück – leer, still, aber nicht tot. Die Kreidereste bewegten sich weiter, langsam, unmerklich, bildeten Formen, die niemand sehen würde, die vielleicht nie gesehen werden sollten.
Und irgendwo, in diesem Raum, in dieser Narbe, in diesem Loch in der Vollständigkeit, begann etwas zu wachsen.
Noch hatte es keinen Namen.
Noch hatte es keine Form.
Aber es war da.
Wartete.
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