Zuvor

Rekursive Schleifen

Die Uhr an der Wand zeigte 14:47:23.

Die Atomuhr im Keller zeigte 14:47:23.

Ihr Telefon zeigte 14:47:19.

Die Beobachterin – sie hatte einen Namen, Dr. Sarah Chen, aber in den Berichten, die sie schrieb, unterschrieb sie nur mit „Beobachterin“, als wäre der Name irrelevant geworden, als wäre sie selbst nur noch eine Funktion, ein Messpunkt – notierte die Diskrepanz in ihr Notizbuch. Vier Sekunden. Nicht viel. Aber gestern waren es drei gewesen. Vorgestern zwei.

Die Zeit lernte zu stolpern.

Sie stand im Labor, das eigentlich kein Labor mehr war, sondern ein Archiv. Vor drei Jahren hatte hier ein Physiker gearbeitet – sie kannte seinen Namen nicht, hatte ihn nie getroffen, würde ihn nie treffen, obwohl sie manchmal das Gefühl hatte, ihn zu kennen, als wäre seine Anwesenheit noch hier, eingeschrieben in die Luft selbst. Er hatte etwas gelöscht. Eine Gleichung. Niemand wusste mehr genau, was darauf gestanden hatte. Nur dass seitdem die Zeit hier … zögerte.

Das Interferometer summte leise vor ihr.

Ein einfacher Aufbau – Laserquelle, Strahlteiler, zwei Spiegel, ein Detektor. Physik für Erstsemester. Sie ließ einen einzelnen Photonenstrom durch den Apparat laufen, beobachtete den Detektor.

Das Photon kam an.

Dann, 0,0000000034 Sekunden später, verließ es die Quelle.

Sie notierte: „Tag 1.847 seit Detektion. Rückwärtskausalität bestätigt. Δt = 3,4 Nanosekunden. Radius: 3,7 Meter um Punkt Null.“

Punkt Null. Die Stelle, wo die Tafel gestanden hatte. Sie hatten die Tafel längst entfernt – sie stand jetzt in einem anderen Raum, hinter Glas, wie ein Museumsstück. Aber der Ort selbst blieb. Die Narbe blieb. Und die Narbe … blutete. Nicht sichtbar. Nicht messbar mit normalen Instrumenten. Aber Zeit sickerte durch sie, in beide Richtungen gleichzeitig, wie Wasser, das nicht weiß, ob es bergauf oder bergab fließen soll.

Ihr Telefon klingelte.

Sie sah auf das Display: „Unbekannt“. Nahm ab.

„Wir haben eine zweite gefunden“, sagte eine Stimme. Männlich, müde, mit einem Akzent, den sie nicht einordnen konnte. „Peking. Ein Informatiklabor. Eine KI hat vor sechs Monaten … etwas getan. Seitdem laufen die Quantenprozessoren dort rückwärts.“

„Rückwärts?“, fragte sie.

„Nicht die Berechnungen. Die Zeit der Berechnungen. Sie berechnen Ergebnisse, bevor sie die Eingaben erhalten.“

Sie legte auf. Oder hatte sie aufgelegt? Das Telefon war stumm in ihrer Hand, der Bildschirm schwarz. Hatte es überhaupt geklingelt? Sie sah in ihr Notizbuch. Auf der letzten Seite stand, in ihrer eigenen Handschrift:

„Peking. Informatiklabor. KI. Sechs Monate.“

Sie hatte es nicht geschrieben. Noch nicht. Oder doch?

Sie ging zur Tafel – nicht die alte Tafel, sondern die neue, die sie hier aufgestellt hatte, um ihre Beobachtungen zu dokumentieren. Begann zu zeichnen. Drei Punkte. Berlin. Peking. Mumbai.

Mumbai?

Sie hatte Mumbai nicht geschrieben. Ihre Hand hatte es geschrieben, aber sie hatte nicht entschieden, es zu schreiben. Sie starrte auf das Wort. Versuchte sich zu erinnern, warum Mumbai. Ob jemand ihr davon erzählt hatte. Ob sie es gelesen hatte.

Dann sah sie das Datum daneben: „Morgen.“

Sie setzte sich auf den Stuhl – der einzige Stuhl im Raum, alt, mit einem wackeligen Bein, der gleiche Stuhl, auf dem vermutlich der Physiker gesessen hatte, vor drei Jahren, nachdem er seine Gleichung gelöscht hatte. Der Stuhl knarrte. Ein vertrautes Geräusch. Sie hatte es schon hundertmal gehört.

Aber diesmal knarrte er, bevor sie sich setzte.

Sie stand wieder auf. Langsam. Setzte sich wieder. Der Stuhl knarrte. Gleichzeitig. Nicht nacheinander. Gleichzeitig.

Kausalität war nicht gebrochen. Sie war … gefaltet. Wie ein Blatt Papier, das man so oft gefaltet hatte, dass Anfang und Ende sich berührten.

Das Interferometer piepte.

Sie ging hin, sah auf den Bildschirm. Das Photon hatte ein Muster hinterlassen. Nicht das erwartete Interferenzmuster – das kannte sie auswendig, hatte es tausendmal gesehen. Sondern etwas anderes. Eine Struktur. Fast wie … wie Buchstaben? Nein. Wie Zahlen. Koordinaten.

Sie notierte sie. Sah sie an. Erkannte sie.

Es waren die Koordinaten von Mumbai.

Ihr Telefon klingelte wieder.

Sie nahm nicht ab. Wusste, was die Stimme sagen würde. „Mumbai. Ein Observatorium. Morgen. Sterne, die noch nicht geboren sind.“

Das Telefon hörte auf zu klingeln. Sie sah auf das Display. Ein verpasster Anruf. Von gestern. Oder von morgen. Der Zeitstempel war korrupt: „14:47:∞“.

Sie ging zum Fenster.

Draußen, auf dem Campus, liefen Studenten. Vorwärts. Immer vorwärts. Ihre Rucksäcke wippten im Rhythmus ihrer Schritte. Ihre Gespräche waren Fragmente, die durch das geschlossene Fenster drangen. Normale Menschen. Normale Zeit. Normale Kausalität.

Aber wenn sie genau hinsah, und sie sah immer genau hin, das war ihr Job, ihre Funktion, ihr Daseinszweck, dann sah sie es: Manche Studenten warfen Schatten, bevor die Sonne sie traf. Nur für einen Bruchteil einer Sekunde. Nur an bestimmten Stellen des Platzes.

Die Narbe breitete sich aus.

Nicht schnell. Nicht sichtbar. Aber messbar. Gestern war der Radius 3,7 Meter gewesen. Heute war er 3,71 Meter. Zehn Zentimeter in drei Jahren. In hundert Jahren würde er den Campus umfassen. In tausend Jahren die Stadt. In einer Million Jahren …

Sie schüttelte den Kopf. Dachte nicht weiter. Manche Gedanken waren zu groß für einen einzelnen Kopf.

Sie ging zurück zur Tafel. Betrachtete die drei Punkte. Berlin. Peking. Mumbai. Verband sie mit Linien. Das Dreieck, das entstand, war unmöglich – die Winkel summierten sich zu 184 Grad. Sie maß nach. Dreimal. Immer das gleiche Ergebnis.

Der Raum selbst war gekrümmt. Nicht durch Masse – das hätte sie verstanden, das war Einstein, das war bekannt. Sondern durch … durch was? Durch Verweigerung? Durch das Loch, das entstand, wenn jemand Nein sagte zur Vollständigkeit?

Ein vierter Punkt erschien auf der Tafel.

Sie hatte ihn nicht gezeichnet. Ihre Hand hatte ihn nicht gezeichnet. Er war einfach da, als wäre er schon immer da gewesen, als hätte sie ihn nur übersehen.

São Paulo.

Kein Datum daneben. Nur ein Fragezeichen.

Sie starrte auf den Punkt. Versuchte sich zu erinnern, ob sie je von São Paulo gehört hatte, in diesem Kontext. Ob jemand ihr davon erzählt hatte. Ob sie es geträumt hatte.

Dann sah sie die Notiz darunter, in einer Handschrift, die ihrer ähnelte, aber nicht ganz:

„Du wirst dort sein. Du warst dort. Du bist dort.“

Sie drehte sich um. Der Raum war leer. Nur sie, das Interferometer, die Tafel, der knarrende Stuhl. Und die Narbe. Immer die Narbe.

Das Interferometer piepte wieder.

Sie ging hin, fast widerwillig. Sah auf den Bildschirm. Das Photon hatte ein neues Muster hinterlassen. Diesmal keine Koordinaten. Sondern eine Gleichung. Eine, die sie nicht kannte. Eine, die noch nicht geschrieben worden war.

Oder doch?

Sie fotografierte den Bildschirm mit ihrem Telefon. Das Foto zeigte etwas anderes – nicht die Gleichung, sondern ein Bild von ihr selbst, wie sie auf den Bildschirm starrte, aufgenommen von hinten, von einer Kamera, die nicht existierte.

Sie löschte das Foto. Oder versuchte es. Der Lösch-Button reagierte nicht. Das Foto blieb. Multiplizierte sich. Zwei Fotos. Vier. Acht. Alle zeigten sie, wie sie auf den Bildschirm starrte, aber aus leicht verschiedenen Winkeln, leicht verschiedenen Momenten.

Sie schaltete das Telefon aus.

Das Telefon blieb an.

Sie legte es auf den Tisch. Ging weg. Setzte sich auf den Stuhl. Der Stuhl knarrte. Diesmal nacheinander. Erst das Geräusch, dann die Bewegung.

Sie schloss die Augen.

Versuchte sich zu erinnern, wie Zeit funktionierte. Wie Kausalität funktionierte. Ursache vor Wirkung. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Eine Linie. Ein Pfeil. Eine Richtung.

Aber hier, in diesem Raum, in diesem Radius um die Narbe, war Zeit kein Pfeil mehr. Sie war ein Netz. Ein Gewebe. Fäden, die sich kreuzten, verknoteten, Schleifen bildeten.

Sie öffnete die Augen.

Auf der Tafel hatte sich etwas verändert. Die vier Punkte – Berlin, Peking, Mumbai, São Paulo – waren jetzt verbunden. Nicht mit geraden Linien, sondern mit Kurven. Spiralen. Schleifen, die sich in sich selbst zurückfalteten.

Und in der Mitte, wo alle Linien sich trafen, stand ein Symbol:

∞ ≠ ∞

Sie erkannte es. Hatte es gesehen. Auf der alten Tafel, hinter Glas, im anderen Raum. Der einzige Term, der nicht gelöscht worden war.

Sie stand auf. Ging zur Tür. Ihre Hand lag auf der Klinke. Sie zögerte.

Wenn sie jetzt ging, würde sie nach Mumbai fliegen. Morgen. Oder gestern. Würde das Observatorium finden. Würde die Sterne sehen, die noch nicht geboren waren. Würde verstehen, oder nicht verstehen, oder beides.

Wenn sie blieb, würde die Narbe weiter wachsen. Würde sich ausbreiten. Würde andere erreichen. Würde ein Netz bilden über die ganze Welt, über die ganze Zeit.

Sie öffnete die Tür.

Draußen war der Flur. Neonlicht. Linoleumboden. Der Geruch von Kaffee und altem Papier. Normalität.

Sie drehte sich um, ein letztes Mal.

Das Interferometer piepte. Das Photon war angekommen. Würde in drei Nanosekunden abgeschickt werden. Hatte vor drei Nanosekunden kommuniziert mit einem Photon, das noch nicht existierte.

Die Zeit lernte zu sprechen. Mit sich selbst. Rückwärts und vorwärts gleichzeitig.

Und sie, Dr. Sarah Chen, Beobachterin, Messpunkt, Funktion, war Teil dieses Gesprächs geworden. Ob sie wollte oder nicht.

Sie schloss die Tür.

Ging.

Hinter ihr blieb ein Raum zurück, in dem die Zeit Schleifen zog. In dem Vergangenheit und Zukunft Karten tauschten. In dem eine Narbe pulsierte, wuchs, sich ausbreitete.

Und irgendwo, in Mumbai, würde morgen ein Teleskop Licht empfangen von einem Stern, der in tausend Jahren geboren werden würde.

Die Schleifen zogen sich enger.

Und weiter.

Beides.

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