Die Neonröhre flackerte. 3,4 Sekunden diesmal. Marcus hatte aufgehört, es zu messen, aber sein Gehirn zählte trotzdem. Immer. Stufen (73 bis zu seiner Wohnung), Atemzüge (durchschnittlich 16 pro Minute in Meetings), Tage seit Sarahs letztem Anruf (12).
Der Kaffee neben seiner Tastatur war kalt. Natürlich. Er konnte sich nicht erinnern, wann er ihn geholt hatte. Zehn Uhr? Elf? Die Zahlen auf seinem Bildschirm verschwammen zu einem Brei aus Wahrscheinlichkeiten. Sterblichkeitstabellen für Männer, 55–60, Nichtraucher, keine Vorerkrankungen. 94,7 % Wahrscheinlichkeit, das nächste Jahr zu überleben. 89,3 % für die nächsten fünf Jahre.
Marcus rieb sich die Augen. Sein Kopf dröhnte. Die Präsentation war morgen, und er hatte noch nicht einmal die Zusammenfassung geschrieben. Wieder eine Nacht ohne Schlaf. Wieder Kaffee zum Frühstück, Mittag- und Abendessen.
Die Armbanduhr an seinem Handgelenk zeigte 14:37. Wie immer. Sie hatte vor achtzehn Jahren aufgehört zu ticken, in dem Moment, als sein Vater sie abgenommen und ihm gegeben hatte. „Pass auf sie auf“, hatte er gesagt. Drei Stunden später war er tot gewesen. Herzinfarkt, 52 Jahre alt, Raucher, Vorerkrankungen. Die Statistiken hatten es vorhergesagt.
Marcus trug die Uhr trotzdem. Oder gerade deswegen.
Das Flackern wurde intensiver. Nicht nur die Neonröhre jetzt – sein ganzes Sichtfeld pulsierte. Migräne? Er hatte seit vierzig Stunden nicht geschlafen. Vielleicht sollte er nach Hause gehen. Aber die Präsentation …
Er lehnte sich zurück, schloss die Augen. Nur für einen Moment. Nur um die Kopfschmerzen zu lindern.
Das Flackern hörte nicht auf. Es wurde heller, intensiver, als würde jemand die Helligkeit der Realität hochdrehen. Marcus spürte etwas Seltsames – ein Ziehen, wie kurz vor dem Einschlafen, wenn der Körper sich fallen lässt. Aber er war wach. Oder?
Er dachte an Sarah. An ihr Gesicht, als sie ihm gesagt hatte, dass sie nach London gehen würde. „Nur zwei Jahre“, hatte sie gesagt. „Komm mit.“ Aber er hatte geschwiegen. Hatte Gründe gefunden. Die Arbeit. Die Wohnung. Die Unsicherheit.
Das Ziehen wurde stärker. Marcus schmeckte plötzlich Kupfer auf seiner Zunge, metallisch und fremd.
Dann: Stille.
Er öffnete die Augen.
Sein Büro sah … anders aus. Nicht dramatisch anders. Nicht offensichtlich. Aber falsch. Der Kaffeebecher stand links von der Tastatur statt rechts. Die Zimmerpflanze auf der Fensterbank – die seit Monaten vertrocknende, traurige Sache – war grün. Nicht üppig, aber lebendig. Jemand hatte sie gegossen.
Marcus starrte sie an. Sein Herz begann schneller zu schlagen.
Auf seinem Schreibtisch, neben dem Bildschirm, stand ein Fotorahmen. Silber, klein, unauffällig. Marcus besaß keinen Fotorahmen. Er hatte alle weggeräumt, nachdem Sarah gegangen war. Zu schmerzhaft.
Er griff danach mit zitternden Fingern.
Das Foto zeigte ihn und Sarah. Ihre Arme um seinen Hals geschlungen, beide lachend, Sonnenlicht in ihren Haaren. Im Hintergrund der Müggelsee. Er erinnerte sich an den Tag – vor drei Jahren, kurz bevor sie nach London hätte gehen sollen.
Hätte gehen sollen.
„Marcus?“
Er fuhr herum. Sarah stand in der Tür seines Büros. Sarah. Hier. In Berlin. Ihre Haare waren länger als in seiner Erinnerung, bis über die Schultern. Sie trug das grüne Kleid, das er mochte, und ihre Restauratorenbrille hing an einer Kette um ihren Hals.
„Kommst du?“ Sie lächelte, aber es war ein müdes Lächeln. „Wir haben für acht Uhr reserviert. Du hast es versprochen, Marcus. Keine Überstunden heute.“
Marcus' Mund öffnete sich, aber keine Worte kamen heraus. Sein Gehirn versuchte verzweifelt, die Situation zu prozessieren. Sarah war in London. Sarah war seit neun Monaten in London. Sie telefonierten einmal die Woche, kurze, schmerzhafte Gespräche voller Pausen und Nicht-Gesagtem.
„Marcus?“ Sarahs Lächeln verblasste. „Geht es dir gut? Du siehst blass aus.“
„Ich …“ Seine Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren. „Ja. Entschuldigung. Ich war … in Gedanken.“
„Du bist immer in Gedanken.“ Sie trat näher, legte eine Hand auf seine Stirn. Ihre Berührung war warm, real, unmöglich. „Du fühlst dich kalt an. Hast du heute überhaupt etwas gegessen?“
Marcus schüttelte den Kopf. Konnte nicht sprechen. Sarahs Parfüm – dieses spezifische, nach Bergamotte und etwas Holzigem – füllte seine Nase. Er hatte es seit Monaten nicht gerochen.
„Komm.“ Sie nahm seine Hand. „Wir gehen essen, und dann gehst du nach Hause und schläfst. Du arbeitest zu viel.“
Marcus ließ sich von ihr hochziehen. Ihre Hand in seiner fühlte sich an wie eine Erinnerung, die Fleisch geworden war. Er stolperte leicht, und sie fing ihn auf.
„Vorsichtig.“ Ihre Stimme war besorgt. „Wann hast du das letzte Mal geschlafen?“
„Ich weiß nicht.“
Sie seufzte. „Das dachte ich mir.“
Marcus folgte ihr zur Tür wie in Trance. Sein Büro – aber nicht sein Büro – glitt an ihm vorbei. Alles war subtil verschoben. Das Whiteboard an der Wand zeigte andere Notizen. Der Kalender zeigte … er blinzelte. Dasselbe Datum. 17. Oktober. Aber die Einträge waren anders.
Sie gingen den Flur entlang. Kollegen nickten ihm zu. „Schönen Abend, Marcus.“ „Bis morgen.“ Normale Dinge. Aber Marcus kannte diese Leute kaum. Er aß allein zu Mittag, arbeitete bis spät, sprach mit niemandem.
Hier schienen sie ihn zu kennen.
Die Neonröhren im Flur flackerten.
Marcus blieb stehen. Das Ziehen war wieder da, das Kupfer auf seiner Zunge. Das Gefühl des Fallens.
„Marcus?“ Sarahs Stimme kam von weit weg.
Das Flackern wurde intensiver, schmerzhaft hell. Marcus schloss die Augen, und diesmal dachte er nicht an Sarah. Er dachte an sein Büro. Sein echtes Büro. Die vertrocknende Pflanze. Der kalte Kaffee rechts von der Tastatur. Die Einsamkeit.
Der Geschmack von Kupfer wurde überwältigend.
Dann: Stille.
Er öffnete die Augen.
Sein Büro. Die vertrocknende Pflanze. Der Kaffee rechts. Kein Fotorahmen.
Marcus taumelte, fing sich am Schreibtisch ab. Sein Herz hämmerte so laut, dass er sicher war, die Kollegen im Nachbarbüro müssten es hören. Er sah auf seine Hände – sie zitterten.
Was zur Hölle war das gewesen?
Er griff nach seinem Kaffee. Rechts von der Tastatur. Längst abgestanden. Er trank, mechanisch, schmeckte nichts.
Seine Hände zitterten noch. Er legte sie flach auf den Schreibtisch, versuchte sie zu beruhigen.
Auf dem Bildschirm: die Sterblichkeitstabellen. Unverändert. Die Realität, stabil, messbar, rational.
Aber der Geschmack von Kupfer war noch da.
Ein Tagtraum? Eine Halluzination? Er hatte schon oft von Sarah geträumt, aber nie so … real. Nie so spezifisch. Das Parfüm. Die Wärme ihrer Hand. Das grüne Kleid.
Er setzte sich langsam hin, starrte auf den Bildschirm. Die Sterblichkeitstabellen waren noch da, unverändert. Die Uhr am Computer zeigte 18:47. Dieselbe Zeit wie … vorher? Oder war Zeit vergangen?
Marcus griff nach seinem Handy. Keine Nachrichten. Keine verpassten Anrufe. Nichts von Sarah.
Er scrollte durch seine Kontakte, fand ihren Namen, starrte darauf. Sein Daumen schwebte über dem Anrufbutton.
Was würde er sagen? „Ich habe dich gerade gesehen, aber du warst nicht real“? „Ich glaube, ich habe eine Psychose“?
Er legte das Handy weg.
Die Neonröhre über ihm flackerte. 3,7 Sekunden. Zurück zum normalen Rhythmus.
Marcus atmete tief durch. Dann noch einmal. Sein Herzschlag verlangsamte sich allmählich.
Okay. Logisch denken. Hypothesen aufstellen.
Hypothese 1: Halluzination durch Schlafmangel und Stress. Wahrscheinlichkeit: Hoch. Er hatte seit vierzig Stunden nicht geschlafen.
Hypothese 2: Kurzer Traum, während er am Schreibtisch eingenickt war. Wahrscheinlichkeit: Mittel. Aber es hatte sich nicht wie ein Traum angefühlt.
Hypothese 3: …
Er stockte. Was war Hypothese 3? Dass es real gewesen war? Dass er irgendwie … woanders gewesen war?
Unmöglich. Nicht wissenschaftlich. Nicht rational.
Aber der Geschmack von Kupfer war noch da, schwach, auf seiner Zunge.
Marcus öffnete ein neues Dokument auf seinem Computer. Begann zu tippen.
17. Oktober, 18:47 Uhr
Ereignis: Mögliche Halluzination/Traum
Dauer: Unbekannt (gefühlt 2–3 Minuten)
Auslöser: Neonröhrenflackern + Erschöpfung?
Details:
- Büro verändert (Kaffee links, Pflanze lebendig, Foto)
- Sarah anwesend (unmöglich – sie ist in London)
- Umgebung kohärent, nicht traumhaft
- Spezifische sensorische Details (Parfüm, Berührung, Temperatur)
- Rückkehr durch zweites Flackern
Zu testen: Reproduzierbarkeit?
Er starrte auf die Worte. Reproduzierbarkeit. Wissenschaftliche Methode. Wenn es einmal passiert war, konnte es wieder passieren. Und wenn es wieder passieren konnte, war es kein Zufall.
Marcus sah zur Neonröhre hoch. Sie flackerte gleichmäßig, mechanisch, bedeutungslos.
Er schloss die Augen. Versuchte, sich zu entspannen. Versuchte, das Gefühl des Fallens zu reproduzieren. Dachte an Sarah, an das Foto, an das grüne Kleid.
Nichts.
Er versuchte es noch einmal. Konzentrierte sich auf den Punkt zwischen seinen Augenbrauen, wie bei der Meditation, die Sarah ihm beigebracht hatte. Atmete tief. Ließ los.
Nichts.
Nach zwanzig Minuten gab er auf. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Er brauchte Schlaf. Echten Schlaf.
Marcus packte seinen Laptop ein, schaltete den Bildschirm aus. Die Sterblichkeitstabellen würden bis morgen warten müssen.
Auf dem Weg nach draußen blieb er kurz stehen, sah zurück in sein Büro. Die vertrocknende Pflanze stand dunkel gegen das Fenster.
Er dachte an die andere Pflanze. Die grüne, lebendigere.
Dann machte er das Licht aus und ging nach Hause.
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