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Marcus schlief nicht.
Er lag in seiner Wohnung im vierten Stock, starrte an die Decke und zählte die Risse im Putz. Siebenundzwanzig. Oder achtundzwanzig, je nachdem, ob man den kleinen Haarriss über dem Fenster mitzählte.
Um 3:47 Uhr gab er auf. Stand auf, ging zum Schreibtisch, klappte seinen Laptop auf.
Das Dokument von gestern Abend war noch offen. Er las es noch einmal, dann noch einmal. Die Worte änderten sich nicht. Das Ereignis blieb real – oder zumindest real genug, um dokumentiert zu werden.
Marcus öffnete ein neues Dokument. Schrieb oben: PROTOKOLL.
Dann begann er zu tippen.
HYPOTHESE:
Das Ereignis vom 17.10. war keine Halluzination, sondern ein
reproduzierbarer Zustand. Arbeitstitel: „Der Sprung“
BEOBACHTETE VARIABLEN:
1. Neonröhrenflackern (möglicherweise Auslöser, nicht Ursache)
2. Extreme Erschöpfung (40+ Stunden ohne Schlaf)
3. Mentaler Zustand: Entspannung + intensive Visualisierung
4. Physische Sensation: Kupfergeschmack, Ziehen, Fallgefühl
TESTPLAN:
- Systematische Reproduktionsversuche
- Dokumentation aller Variablen
- Identifikation von Unterschieden zwischen Zustand A und B
- Arbeitsnamen: Helix-1 (Original), Helix-2 (Alternative)
ERSTE TESTSERIE: 18.10., 04:00 Uhr
Er lehnte sich zurück, starrte auf den Bildschirm. Das war verrückt. Er dokumentierte etwas, das nicht existieren konnte. Aber wenn er es nicht dokumentierte, wenn er es nicht testete, würde er nie wissen, ob es real war.
Und er musste es wissen.
Marcus stand auf, ging ins Badezimmer. Stellte sich vor den Spiegel. Sein Gesicht sah müde aus – dunkle Ringe unter den Augen, Stoppeln am Kinn, drei graue Haare an der rechten Schläfe. Er zählte sie. Immer noch drei.
Er holte ein Notizbuch aus dem Wohnzimmer, setzte sich auf den Badezimmerboden, begann zu schreiben.
HELIX-1 (ORIGINAL) – PHYSISCHE MARKER:
- Narbe über linker Augenbraue (Fahrradunfall, 12 Jahre)
- Drei graue Haare, rechte Schläfe
- Leberfleck, Hals links, 3 mm
- Kratzer am rechten Handrücken (von wann?)
- Armbanduhr: 14:37, stehengeblieben
Er machte ein Foto von sich mit dem Handy. Dann noch eins. Dokumentation.
Dann schloss er die Augen.
Konzentrierte sich auf den Punkt zwischen seinen Augenbrauen. Atmete langsam, tief. Versuchte, das Gefühl von gestern Abend zu reproduzieren. Das Loslassen. Das Fallen.
Dachte an Wasser. Kaltes Wasser. Fließend. Warum Wasser? Er wusste es nicht, aber das Bild hatte sich in seinem Kopf festgesetzt.
Nichts passierte.
Er versuchte es noch einmal. Fünf Minuten. Zehn Minuten.
Nichts.
Marcus öffnete die Augen, frustriert. Notierte:
TEST 1 – GESCHEITERT
Zeit: 04:23 Uhr
Dauer: 15 Minuten
Ergebnis: Kein Flackern. Nur Kopfschmerzen.
Er versuchte es noch einmal. Konzentrierte sich härter. Dachte an Sarah. An das grüne Kleid. An ihre Hand in seiner.
Das Badezimmerlicht flackerte. Kurz. Kaum wahrnehmbar.
Marcus' Herz machte einen Sprung. Aber dann war es vorbei.
TEST 2 – GESCHEITERT
Zeit: 04:45 Uhr
Dauer: 20 Minuten
Ergebnis: Kurzes Flackern, aber kein Sprung.
Gefühl von Übelkeit.
Er stand auf, trank Wasser. Seine Hände zitterten. Vielleicht war es doch nur eine Halluzination gewesen. Vielleicht—
Nein. Er hatte es gespürt. Das Ziehen. Den Kupfergeschmack. Das war real gewesen.
Er setzte sich wieder hin. Versuchte es noch einmal.
TEST 3 – GESCHEITERT
Zeit: 05:15 Uhr
Dauer: 10 Minuten
Ergebnis: Nichts. Vielleicht war es doch eine Halluzination?
Marcus lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Schloss die Augen. Nicht um zu springen. Nur um auszuruhen.
Er dachte an nichts. Ließ seinen Geist treiben. Dachte an Wasser. Kalt. Fließend. Nicht forciert. Nur … da.
Das Badezimmerlicht flackerte.
Der Geschmack von Kupfer explodierte auf seiner Zunge.
Das Ziehen kam, intensiv, fast schmerzhaft. Marcus spürte, wie sein Körper sich verkrampfte, dann entspannte. Das Gefühl des Fallens, aber ohne Bewegung.
Drei Sekunden. Oder drei Stunden. Zeit hatte keine Bedeutung.
Dann: Stille.
Er öffnete die Augen.
Das Badezimmer sah … gleich aus. Fast. Die Zahnbürste stand in einem anderen Becher. Das Handtuch war blau statt grau. Und im Spiegel—
Marcus sah in den Spiegel.
Keine grauen Haare.
Seine Hand schoss zu seiner Schläfe, fuhr durch sein Haar. Dunkelbraun. Vollständig. Die drei grauen Haare waren weg.
„Heilige Scheiße“, flüsterte er.
Er stand auf, trat näher an den Spiegel. Alles andere war identisch. Die Narbe über der Augenbraue. Der Leberfleck am Hals. Der Kratzer am Handrücken. Aber die grauen Haare waren verschwunden.
Marcus griff nach seinem Notizbuch, begann hektisch zu schreiben.
TEST 4 – ERFOLG
Zeit: 05:38 Uhr
Sprung nach Helix-2 bestätigt
UNTERSCHIEDE:
- Keine grauen Haare
- Zahnbürste in anderem Becher (weiß statt grün)
- Handtuch blau statt grau
- Sonst: identisch
SCHLUSSFOLGERUNG:
Physische Veränderungen übertragen sich teilweise.
Objekte bleiben ortsspezifisch.
WICHTIG: Sprung funktioniert nur bei mentalem Loslassen,
nicht bei Forcierung.
Er hielt inne. Wenn er hier war, in Helix-2 … wo war der andere Marcus? Der Marcus, der hier lebte?
Eine beunruhigende Frage.
Marcus verließ das Badezimmer, ging ins Wohnzimmer. Es sah anders aus. Nicht dramatisch, aber spürbar. Die Umzugskartons, die seit zwei Jahren in der Ecke standen – ausgepackt. Die Bücher im Regal – sortiert. Die Gitarre seines Vaters stand nicht verstaubt in der Ecke, sondern prominent an der Wand, frisch poliert.
Er trat näher. Sie glänzte. Jemand hatte sie restauriert. Sarah, wahrscheinlich. Das war ihre Arbeit – alte, kaputte Dinge wieder ganz machen.
Marcus strich mit den Fingern über die Saiten. Sie waren gestimmt. In Helix-1 waren sie seit Jahren nicht mehr gestimmt worden.
Auf dem Couchtisch lag ein Buch, aufgeschlagen. „Die Kunst der Achtsamkeit“. Nicht sein Buch. Er hatte es nie gelesen. Aber offenbar hatte Marcus-2 es.
Marcus setzte sich auf die Couch, nahm das Buch in die Hand. Auf der aufgeschlagenen Seite war ein Satz unterstrichen:
„Wir können nicht zwei Leben gleichzeitig leben. Wir können nur wählen, in welchem wir präsent sein wollen.“
Er lachte. Ein kurzes, bitteres Geräusch. Die Ironie war nicht zu übersehen.
Sein Handy vibrierte. Marcus zuckte zusammen, griff danach. Eine Nachricht von Sarah.
„Bist du wach? Ich kann nicht schlafen.“
Marcus blickte auf die Worte. Sarah schrieb ihm nie mitten in der Nacht. In Helix-1 schrieb sie überhaupt kaum noch.
Er scrollte hoch. Die letzte Nachricht war von vor drei Wochen. „Alles gut bei dir?“
Er hatte mit „Ja“ geantwortet. Sie hatte nicht zurückgeschrieben.
Aber hier, in Helix-2, schrieb sie. Jetzt. Um 6 Uhr morgens.
Eine zweite Nachricht: „Denkst du noch über gestern nach?“
Gestern. Was war gestern passiert? In dieser Welt, in diesem Leben?
Marcus' Finger schwebten über der Tastatur. Was sollte er antworten? Er wusste nicht, worüber sie sprach.
Er tippte: „Ja. Können wir morgen darüber reden?“
Die Antwort kam sofort: „Okay. Ich liebe dich.“
Drei Worte. Einfache Worte. Aber sie trafen ihn wie ein Schlag.
Wann hatte Sarah das das letzte Mal zu ihm gesagt? In Helix-1?
Marcus versuchte sich zu erinnern. Konnte nicht.
Monate. Vielleicht ein Jahr. Vielleicht länger.
Er starrte auf die Nachricht. Seine Hände verkrampften sich.
Er musste zurück. Jetzt. Das war nicht sein Leben. Das waren nicht seine Nachrichten. Das war nicht seine Sarah.
Er schloss die Augen. Konzentrierte sich. Wasser. Kalt. Loslassen.
Der Kupfergeschmack kam schneller diesmal. Das Ziehen, das Fallen.
Drei Sekunden.
Er öffnete die Augen.
Graues Handtuch. Grüner Zahnbürstenbecher. Drei graue Haare in seinem Spiegelbild.
Marcus atmete aus. Helix-1. Sein echtes Leben.
Er ging zurück zum Laptop, begann zu tippen.
TEST 4 – VOLLSTÄNDIG ERFOLGREICH
ERKENNTNISSE:
1. Der Sprung ist reproduzierbar
2. Mentaler Zustand ist der Schlüssel (Loslassen, nicht Forcieren)
3. Physische Marker unterscheiden sich minimal
4. Objekte/Umgebung unterscheiden sich deutlich
5. Andere Menschen existieren in beiden Welten
6. Kommunikation ist möglich (Handy funktioniert)
FRAGEN:
- Wo ist Marcus-2, wenn ich in Helix-2 bin?
- Kann er auch springen?
- Was passiert mit der Zeit? (Synchron? Asynchron?)
- Gibt es Konsequenzen für längere Aufenthalte?
NÄCHSTE TESTS:
- Längerer Aufenthalt in Helix-2
- Interaktion mit anderen Menschen
- Bewusste Veränderungen vornehmen
- Überprüfen, ob Veränderungen persistent sind
- Nachricht an Marcus-2 hinterlassen
Marcus lehnte sich zurück. Draußen begann es hell zu werden. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, aber er fühlte sich hellwach.
Er hatte etwas entdeckt. Etwas Unmögliches. Etwas, das alle Gesetze der Physik brach.
Und er war der Einzige, der davon wusste.
Die Frage war: Was sollte er damit tun?
Die nächsten drei Tage verbrachte Marcus mit systematischen Tests.
Test 5: Längerer Aufenthalt in Helix-2 (2 Stunden). Ergebnis: Keine negativen Effekte. Rückkehr problemlos.
Test 6: Objekt von Helix-2 nach Helix-1 mitnehmen (Kugelschreiber). Ergebnis: Objekt bleibt in Helix-2. Keine Duplikation möglich.
Test 7: Physische Veränderung in Helix-2 (Schnitt am Finger). Ergebnis: Schnitt erscheint auch in Helix-1, aber schwächer. Übertragungsrate ca. 60 %.
Test 8: Nachricht an sich selbst hinterlassen. Ergebnis: …
Marcus stand in Helix-2, in seiner Wohnung, mit einem Zettel in der Hand.
Er schrieb: „Ich weiß, dass du existierst. Wir müssen reden. – M1“
Er legte den Zettel auf den Küchentisch, gut sichtbar.
Dann sprang er zurück nach Helix-1.
Ging zum Küchentisch.
Der Zettel lag da. Aber er war nicht leer.
Unter seiner Nachricht, in derselben Handschrift, stand:
„Ich weiß. Hör auf, in mein Leben einzudringen. – M2“
Marcus sah auf die Worte. Seine eigene Handschrift. Seine eigenen Worte. Aber nicht von ihm.
Es gab einen anderen Marcus. Und er konnte auch springen.
Das Spiel hatte gerade erst begonnen.
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