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Marcus hatte ein System entwickelt.
Morgens in Helix-1: Duschen, Kaffee, zur Arbeit. Die Routine seines echten Lebens. Mittags, in der Pause, wenn er allein in seinem Büro saß: Sprung nach Helix-2. Nur für zwanzig Minuten. Nur um zu sehen.
Was er sah, war ein besseres Leben.
In Helix-2 grüßten ihn die Kollegen im Flur. Kannten seinen Namen. Fragten, wie sein Wochenende gewesen war. In Helix-1 gingen sie an ihm vorbei, als wäre er unsichtbar.
In Helix-2 war sein Schreibtisch aufgeräumt. Pflanzen auf der Fensterbank. Das Foto von Sarah prominent platziert. In Helix-1 stapelten sich alte Kaffeebecher und ungelesene Memos.
In Helix-2 hatte er die Beförderung bekommen.
Marcus hatte das an seinem dritten Tag entdeckt, als er durch die Emails scrollte. Eine Nachricht von der Geschäftsführung, datiert auf vor sechs Monaten:
„Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer neuen Position als Senior Analyst. Wir freuen uns auf Ihre Führung des Teams.“
Senior Analyst. Das war die Position, für die er sich in Helix-1 beworben hatte. Das Interview, bei dem er gestottert hatte, zu vorsichtig gewesen war, alle Antworten mit „vielleicht“ und „möglicherweise“ abgeschwächt hatte.
In Helix-2 hatte Marcus-2 offenbar nicht gestottert.
Die Kommunikation mit Marcus-2 war spärlich. Gelegentliche Zettel, kurze Nachrichten. Meist Warnungen.
„Bleib weg von meiner Sarah.“
„Hör auf, meine Sachen anzufassen.“
„Das ist MEIN Leben.“
Marcus ignorierte sie zunächst. Technisch gesehen war es auch sein Leben. Eine Version davon. Eine bessere Version.
Die ersten drei Tage waren … befreiend.
Marcus ging zur Arbeit in Helix-2, aber er kümmerte sich nicht. Sagte in Meetings, was er wirklich dachte. Unterbrach Kollegen. Traf Entscheidungen ohne Absicherung.
„Das ist Schwachsinn“, sagte er zu einem Vorschlag. Die Kollegen starrten ihn an. Normalerweise sagte Marcus so etwas nicht. Normalerweise sagte M2 so etwas nicht.
Aber Marcus war nicht M2. Und das war nicht sein Leben. Also warum vorsichtig sein?
Am zweiten Tag kündigte er fast. Schrieb die Email, Finger auf „Senden“.
Dann dachte er an M2. An die Nachricht: „Versuch, mein Leben nicht komplett zu ruinieren.“
Er löschte die Email.
Okay. Nicht kündigen. Aber er musste auch nicht nett sein.
Am dritten Tag kam die Quittung.
Das Team-Meeting war ein Albtraum.
Marcus saß am Kopf des Tisches – offenbar sein Platz als Senior Analyst – und versuchte, kompetent auszusehen. Um ihn herum saßen acht Leute, deren Namen er nicht kannte, die über Projekte sprachen, von denen er noch nie gehört hatte.
„Marcus?“ Eine Frau – Anfang dreißig, rote Haare, Brille – sah ihn erwartungsvoll an. „Was denkst du?“
Das musste Anna sein. M2 hatte sie in einer Notiz erwähnt.
„Ich …“ Marcus' Verstand raste. „Entschuldigung, kannst du das nochmal zusammenfassen? Ich war kurz abgelenkt.“
Anna runzelte die Stirn, aber wiederholte: „Die Risikomodelle für die neue Produktlinie. Wir haben die Daten, aber die Konfidenzintervalle sind zu breit. Sollen wir mehr Samples nehmen oder mit dem arbeiten, was wir haben?“
Risikomodelle. Konfidenzintervalle. Das war sein Gebiet. Oder zumindest das Gebiet von Marcus-1.
„Mehr Samples“, sagte er. „Breite Konfidenzintervalle bedeuten hohe Unsicherheit. Wir können keine Empfehlung mit hoher Unsicherheit abgeben. Das Risiko ist zu groß.“
Anna nickte. „Dachte ich mir auch. Aber das verzögert den Zeitplan.“
„Besser verzögert als falsch.“
Ein Mann am anderen Ende des Tisches – grauer Anzug, Glatze – lachte. „Seit wann bist du so vorsichtig, Marcus? Normalerweise drängst du auf schnelle Entscheidungen.“
Marcus erstarrte. Normalerweise. M2 drängte normalerweise.
„Ich … lerne aus meinen Fehlern“, sagte er.
Der Mann grinste. „Gut. Vorsicht ist nicht schlecht.“
Das Meeting zog sich über eine Stunde. Marcus nickte an den richtigen Stellen, stellte vage Fragen, ließ die anderen reden. Niemand schien zu merken, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie sprachen.
Oder vielleicht merkten sie es, sagten aber nichts.
Zehn Minuten später kam Anna zurück. Schloss die Tür hinter sich.
„Okay“, sagte sie. „Was ist los?“
Marcus sah auf. „Was meinst du?“
„Du bist anders. Seit Tagen. Erst abwesend, dann fokussiert, dann wieder abwesend. Und heute … heute warst du perfekt vorbereitet. Als hättest du die ganze Nacht gelernt.“
„Habe ich.“
„Warum? Du kennst diese Projekte. Du hast sie selbst aufgesetzt.“
Marcus schwieg.
Anna setzte sich. „Ich will nicht neugierig sein. Aber … wenn etwas ist. Wenn du Hilfe brauchst. Ich bin da.“
„Danke“, sagte Marcus. „Aber ich … ich muss das allein regeln.“
Anna nickte. „Okay. Aber pass auf dich auf. Was auch immer es ist.“
Sie ging.
Marcus blieb sitzen. Starrte auf die geschlossene Tür.
Anna wusste. Nicht die Details. Aber sie spürte es.
Wie viele andere spürten es auch?
Das war M2s Leben. Verantwortung. Ein Team, das von ihm abhing. Kollegen, die sich um ihn sorgten.
In Helix-1 hatte Marcus niemanden, der sich sorgte.
Er öffnete die Cloud, fand den Ordner „Q4-Strategie“. Begann zu lesen. Wenn er hier war – auch nur temporär – musste er lernen. Schnell.
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