Zuvor

Am siebten Tag blieb er zum Abendessen.

Er war in Helix-2 gesprungen, nachmittags, und hatte nicht sofort zurückgewechselt. Stattdessen saß er in seinem – Marcus-2s – Büro und las durch alte Emails, Notizen, Kalendereinträge. Versuchte, die Geschichte dieses Lebens zu verstehen.

Die Abzweigung war vor drei Jahren passiert. Er hatte die Details zusammengepuzzelt. In Helix-1 hatte Sarah ihm von dem Jobangebot in London erzählt, und er hatte geschwiegen. Hatte sie gehen lassen, aus Angst, sie zu bitten zu bleiben. Aus Angst vor der Verantwortung, vor dem Versprechen.

In Helix-2 hatte er sie gebeten zu bleiben.

Eine einzige Entscheidung. Ein einziger Moment. Und alles hatte sich verändert.

Sein Handy vibrierte. Helix-2-Handy. Eine Nachricht von Sarah.

„Bin in 20 Min zu Hause. Soll ich was mitbringen? Oder kochen wir?“

Marcus starrte auf die Nachricht. Zu Hause. Sie lebten zusammen. Natürlich taten sie das. In dieser Welt hatte sie nie London gewählt, weil er ihr einen Grund gegeben hatte zu bleiben.

Er sollte zurückspringen. Jetzt. Das war zu weit. Zu invasiv.

Aber seine Finger tippten bereits: „Lass uns kochen. Ich mache Pasta?“

„Perfekt. Bis gleich. ❤️“

Ein Herz. Ein simples Emoji. Aber es fühlte sich an wie ein Stromschlag.

Marcus stand auf, packte seine Sachen. Verließ das Büro. Die Kollegen riefen ihm Abschiedsgrüße zu. „Schönen Abend, Marcus!“ „Bis morgen!“ Er winkte zurück, automatisch, als hätte er das schon tausendmal getan.

Vielleicht hatte Marcus-2 das.

Die Wohnung – seine Wohnung, aber nicht seine – war nur fünfzehn Minuten entfernt. Marcus kannte den Weg, obwohl er ihn nie gegangen war. Muscle Memory von einem anderen Leben.

Er schloss die Tür auf. Trat ein.

Die Wohnung roch nach Sarah. Nach ihrem Parfüm, nach den Kerzen, die sie mochte, nach dem Lavendel-Waschmittel, das sie benutzte. Marcus blieb im Flur stehen, atmete ein. Wie lange war es her, dass seine Wohnung nach etwas anderem gerochen hatte als nach kaltem Kaffee und Staub?

Er ging in die Küche. Sie war sauber, organisiert. Gewürze alphabetisch sortiert im Regal. Töpfe und Pfannen ordentlich verstaut. Das war Sarahs Einfluss. Marcus-1 lebte von Tiefkühlpizza und Lieferessen.

Er öffnete den Kühlschrank. Frisches Gemüse. Parmesan. Basilikum. Die Zutaten für Pasta waren da, als hätte jemand gewusst, dass er das vorschlagen würde.

Vielleicht hatte Marcus-2 das oft gemacht.

Marcus begann zu kochen. Es fühlte sich seltsam an, vertraut und fremd zugleich. Seine Hände wussten, wo die Messer waren, wo die Schneidebretter lagen. Aber sein Kopf war woanders, beobachtete sich selbst aus der Distanz.

Was machte er hier? Das war nicht sein Leben. Das war Voyeurismus. Diebstahl.

Die Tür öffnete sich.

„Marcus?“ Sarahs Stimme. „Riecht gut!“

Sie kam in die Küche, stellte ihre Tasche ab. Trug Jeans und einen Pullover, Haare zu einem lockeren Knoten gebunden. Sie sah müde aus, aber glücklich. Trat zu ihm, legte ihre Arme um seine Taille von hinten, lehnte ihren Kopf gegen seinen Rücken.

„Langer Tag“, murmelte sie.

Marcus erstarrte. Ihre Berührung war warm, real, überwältigend. Er hatte vergessen, wie es sich anfühlte, von jemandem gehalten zu werden. Wie lange war es her? Monate. Ein Jahr.

„Erzähl“, sagte er, und seine Stimme klang fast normal.

Sarah ließ ihn los, lehnte sich gegen die Küchentheke. Begann von ihrer Arbeit zu erzählen – ein Gemälde aus dem 18. Jahrhundert, beschädigt, kompliziert zu restaurieren. Marcus hörte zu, nickte an den richtigen Stellen, stellte Fragen. Es war einfacher als erwartet. Sarah redete gern über ihre Arbeit, brauchte nur jemanden, der zuhörte.

Er konnte zuhören. Das war nicht schwer.

Sie aßen am Küchentisch. Die Pasta war gut – besser als alles, was Marcus in Monaten gekocht hatte. Sarah erzählte weiter, lachte über eine Anekdote mit einem Kollegen. Marcus lachte mit, und für einen Moment vergaß er, dass das nicht sein Leben war.

„Du bist ruhig heute“, sagte Sarah irgendwann. Sie sah ihn an, Kopf leicht geneigt. „Alles okay?“

„Nur müde“, sagte Marcus. „Viel Arbeit.“

„Du arbeitest zu viel.“ Sie griff über den Tisch, nahm seine Hand. „Ich mache mir Sorgen um dich.“

Ihre Hand war warm in seiner. Marcus sah auf ihre verschränkten Finger. In Helix-1 hatte niemand seine Hand gehalten. Niemand machte sich Sorgen um ihn.

„Mir geht's gut“, sagte er.

Sarah lächelte, aber es erreichte ihre Augen nicht ganz. „Du sagst das immer.“

Nach dem Essen räumten sie zusammen auf. Sarah wusch, Marcus trocknete. Eine einfache Choreographie, eingeübt über Jahre. Oder zumindest über Marcus-2s Jahre.

Dann setzten sie sich auf die Couch. Sarah kuschelte sich an ihn, legte ihren Kopf auf seine Schulter. Der Fernseher lief – irgendeine Serie, die Marcus nicht kannte, aber Sarah offenbar schon. Sie kommentierte die Charaktere, lachte an den richtigen Stellen.

Marcus saß da, ihren Körper warm gegen seinen, und fühlte etwas in seiner Brust aufbrechen.

Das hier. Das war es, was er verloren hatte. Was er weggeworfen hatte, aus Angst, aus Feigheit.

In Helix-1 saß er jetzt wahrscheinlich allein in seiner Wohnung, starrte auf seinen Laptop, aß Tiefkühlpizza. In Helix-1 rief Sarah nicht an. In Helix-1 machte sich niemand Sorgen um ihn.

Hier war jemand. Hier war Sarah. Hier war Wärme.

„Marcus?“ Sarahs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

„Hmm?“

„Ich habe dich etwas gefragt.“

„Entschuldigung. Was?“

Sie richtete sich auf, sah ihn an. „Ich habe gefragt, ob du nächste Woche mit zu meinen Eltern kommst. Zum Geburtstag meiner Mutter. Aber du warst komplett woanders.“

„Ich …“ Marcus' Verstand raste. Sarahs Eltern. Er hatte sie seit Jahren nicht gesehen. Seit sie nach London gegangen war. Oder nicht gegangen war. „Natürlich. Klar.“

Sarah runzelte die Stirn. „Du hast es vergessen, oder?“

„Nein, ich—“

„Marcus.“ Ihre Stimme wurde leiser. „Was ist los mit dir? Du bist seit Tagen so … abwesend. Als wärst du nicht wirklich hier.“

Er war nicht wirklich hier. Das war das Problem.

„Entschuldigung“, sagte er. „Ich bin nur … es ist die Arbeit. Das neue Projekt. Ich bin gestresst.“

Sarah seufzte. „Du bist immer gestresst.“ Sie stand auf. „Ich gehe ins Bett. Kommst du?“

Marcus nickte. „Gleich.“

Sie beugte sich herunter, küsste ihn auf die Stirn. „Schlaf nicht auf der Couch ein. Bitte.“

„Versprochen.“

Sie verschwand im Schlafzimmer. Marcus blieb sitzen, starrte auf den Fernseher, ohne zu sehen.

Er sollte gehen. Zurückspringen. Jetzt.

Aber er bewegte sich nicht.

Stattdessen stand er auf, ging zum Schlafzimmer. Die Tür war angelehnt. Sarah lag bereits im Bett, Rücken zu ihm, Decke bis zur Schulter gezogen.

Marcus zog sich aus, legte sich neben sie. Das Bett war weich, warm. Roch nach Sarah.

Sie drehte sich um, kuschelte sich an ihn. Halb schlafend, automatisch. Ihr Atem wurde langsamer, gleichmäßiger.

Marcus lag wach, starrte an die Decke.

Das war falsch. Er wusste, dass es falsch war. Das war nicht sein Leben. Nicht seine Sarah. Er stahl etwas, das Marcus-2 gehörte.

Aber es fühlte sich so verdammt richtig an.

Zum ersten Mal seit Monaten – seit Jahren – fühlte er sich nicht allein.

Er schloss die Augen. Nur für einen Moment. Nur um zu fühlen, wie es war.

Nur noch fünf Minuten, dachte er. Nur noch fünf Minuten in diesem Leben, in dem er nicht allein war.

Fünf Minuten wurden zu zehn. Zu zwanzig. Zu einer Stunde.

Sarah atmete gleichmäßig neben ihm. Warm. Real. Hier.

Marcus dachte: Ich sollte gehen.

Aber sein Körper war schwer. Seine Augen fielen zu.

Nur noch einen Moment …


Marcus wachte auf, und Sarah war weg.

Panik durchfuhr ihn. Er setzte sich auf, desorientiert. Sonnenlicht fiel durch die Vorhänge. Wie spät war es?

Er griff nach seinem Handy. 9:47 Uhr.

Scheiße. Er war eingeschlafen. Wirklich eingeschlafen. In Helix-2.

Eine Nachricht von Sarah: „Bist du krank? Du hast verschlafen. Hab dich nicht wecken wollen. Ruf mich an. ❤️“

Eine Nachricht von seiner Arbeit – Helix-2-Arbeit: „Marcus, das Meeting beginnt in 10 Min. Wo sind Sie?“

Und eine Nachricht von einer unbekannten Nummer: „Was zur HÖLLE machst du? Ich stecke in deinem beschissenen Leben fest, und du schläfst in meinem Bett?? – M2“

Marcus betrachtete die letzte Nachricht.

M2 war in Helix-1. Gefangen, während Marcus hier war.

Er sprang aus dem Bett, zog sich hastig an. Konzentrierte sich. Wasser. Kalt. Loslassen.

Der Kupfergeschmack kam, das Ziehen—

Nichts.

Er versuchte es noch einmal. Noch einmal.

Nichts.

Der Sprung funktionierte nicht.

Marcus' Herz begann zu rasen. Was war passiert? Warum konnte er nicht zurück?

Sein Handy vibrierte. Wieder die unbekannte Nummer.

„Du kannst nicht zurück, oder? Ich auch nicht. Ich glaube, wir haben zu lange gewartet. Die Verschränkung hat sich … stabilisiert. Wir stecken fest. Jeder im Leben des anderen.“

Eine Pause. Dann:

„Willkommen in meinem Leben, Arschloch. Viel Spaß.“

Marcus ließ das Handy fallen.

Er war gefangen. In Helix-2. In Marcus-2s Leben.

In einem Leben, das er nicht kannte. Mit Verantwortungen, die er nicht übernommen hatte. Mit Menschen, die ihn kannten, aber die er nicht kannte.

Mit Sarah. Die ihn liebte. Die dachte, er wäre jemand anderes.

Das Spiel war vorbei.

Die Konsequenzen hatten gerade erst begonnen.

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