← Zuvor
Marcus stand unter der Dusche und ließ kaltes Wasser über seinen Kopf laufen. Versuchte, klar zu denken.
Gefangen. Er war gefangen in Helix-2.
Oder … war er das wirklich?
Er trocknete sich ab, ging zum Spiegel. Sein Gesicht sah zurück – keine grauen Haare, ausgeruhter als in Wochen. Das Gesicht von jemandem, der ein besseres Leben lebte.
Sein Handy lag auf dem Waschbecken. Die Nachricht von M2 war noch da.
Marcus tippte: „Wie lange?“
Die Antwort kam nach zwei Minuten: „Keine Ahnung. Einen Tag? Zwei? Ich habe es noch nie so lange versucht. Du?“
„Auch nicht.“
„Großartig. Wir sind beide Idioten.“
Marcus' Blick verharrte auf dem Bildschirm. Dann tippte er: „Was machen wir?“
Die Antwort dauerte länger diesmal.
„Was können wir machen? Wir warten. Vielleicht löst sich die Verschränkung von selbst. In der Zwischenzeit … versuch, mein Leben nicht komplett zu ruinieren. Ich versuche das Gleiche mit deinem.“
„Wie soll ich das tun? Ich kenne dein Leben nicht.“
„Dann lern es. Schnell. Du hast in einer Stunde ein Team-Meeting. Anna wird Fragen zu dem Projekt stellen. Die Antworten sind in der Cloud, Ordner ‚Q4-Strategie'. Sarah erwartet heute Abend, dass du mit ihr über ‚gestern' redest – keine Ahnung, was gestern war, aber sie war aufgebracht. Und du hast morgen Abendessen mit ihren Eltern. Vergiss das nicht.“
Marcus las die Nachricht noch einmal. Das war keine Drohung. Das war … Hilfe?
„Warum hilfst du mir?“
„Weil wenn du scheiterst, scheitere ich auch. Wir sind verschränkt, Idiot. Was du tust, beeinflusst mich. Was ich tue, beeinflusst dich. Wir sind im selben Boot. Nur dass das Boot in zwei verschiedenen Ozeanen schwimmt.“
Marcus lehnte sich gegen die Wand. Das ergab Sinn. Eine perverse, unmögliche Art von Sinn.
„Okay. Was brauchst du von mir? Für Helix-1?“
„Geh zur Arbeit. Mach deine Quartalsberichte fertig. Präsentation ist übermorgen. Und ruf verdammt nochmal deine Mutter an. Sie hat dreimal angerufen.“
Seine Mutter. Marcus hatte seit Wochen nicht mit ihr gesprochen. Schlechtes Gewissen kroch in ihm hoch.
„Okay.“
„Und Marcus?“
„Ja?“
„Fass meine Sarah nicht an.“
Marcus sah auf die Nachricht. Dann tippte er: „Sie ist auch meine Sarah.“
Die Antwort kam sofort: „Nein. Ist sie nicht. Du hast deine Sarah gehen lassen. Ich habe meine gebeten zu bleiben. Das ist der Unterschied.“
Marcus hatte keine Antwort darauf.
Das Team-Meeting war … besser als erwartet.
Marcus saß am Kopf des Tisches – offenbar sein Platz als Senior Analyst – und hatte die ganze Nacht die Dateien studiert. Q4-Strategie. Risikomodelle. Projektpläne.
Er war vorbereitet. Nicht perfekt, aber genug.
Anna stellte ihre Fragen. Marcus antwortete, präzise, analytisch. Die anderen nickten, machten Notizen.
„Gut“, sagte Anna am Ende. „Das klingt solide. Wir gehen so vor.“
Nach dem Meeting kam sie zu ihm.
„Besser heute“, sagte sie.
„Besser?“
„Gestern warst du … abwesend. Heute bist du fokussiert.“ Sie musterte ihn. „Was auch immer du gemacht hast, mach weiter so.“
Marcus nickte. „Danke.“
Sie ging. Marcus blieb in seinem Büro sitzen, starrte auf den Bildschirm.
Das war M2s Leben. Verantwortung. Ein Team, das von ihm abhing. Kollegen, die sich um ihn sorgten.
In Helix-1 hatte Marcus niemanden, der sich sorgte.
Aber jetzt … jetzt musste er sich sorgen. Um dieses Leben. Um diese Menschen.
Weil es das Einzige war, was er hatte.
Am Abend kam Sarah nach Hause und fand ihn auf der Couch, Laptop auf den Knien, Notizen überall verstreut.
„Du arbeitest schon wieder“, sagte sie. Nicht vorwurfsvoll. Nur müde.
Marcus klappte den Laptop zu. „Entschuldigung. Ich bin gleich fertig.“
Sarah setzte sich neben ihn. Schwieg einen Moment. Dann: „Können wir jetzt reden? Über gestern?“
Gestern. Was auch immer gestern passiert war.
Marcus' Verstand raste. Er könnte lügen, ausweichen. Aber Sarah würde es merken. Sie kannte ihn – oder zumindest kannte sie M2.
„Ich …“ Er holte tief Luft. „Entschuldigung, aber kannst du mir sagen, was genau gestern passiert ist? Ich war so gestresst, alles verschwimmt.“
Sarah sah ihn lange an. „Du hast es vergessen.“
„Nicht vergessen. Nur … durcheinander.“
Sie seufzte. „Wir haben über Kinder geredet. Du hast gesagt, du bist noch nicht bereit. Ich habe gesagt, wir werden nie bereit sein, wenn wir immer warten. Du hast gesagt, du brauchst mehr Zeit. Ich habe gefragt, wie viel Zeit. Du hattest keine Antwort.“
Kinder. Natürlich. Sie waren zusammen, stabil, Anfang dreißig. Die Frage war unvermeidlich.
„Und dann?“ fragte Marcus leise.
„Dann hast du dich in deine Arbeit vergraben. Wie immer.“ Sarah sah auf ihre Hände. „Manchmal frage ich mich, ob du überhaupt eine Zukunft mit mir willst. Oder ob du nur … hier bist, weil es einfacher ist als zu gehen.“
Die Worte trafen Marcus wie ein Schlag. Weil sie wahr waren. Nicht für M2 vielleicht, aber für ihn.
Er hatte Sarah gehen lassen in Helix-1, weil er Angst hatte. Angst vor Verantwortung, vor Versagen, vor der Zukunft.
Und jetzt saß er hier, in einem Leben, in dem er sie gebeten hatte zu bleiben, und M2 hatte dieselbe Angst. Nur anders verpackt.
„Ich will eine Zukunft mit dir“, sagte Marcus. Und er meinte es. In diesem Moment meinte er es wirklich.
Sarah sah ihn an. „Dann zeig es mir. Nicht mit Worten. Mit Taten.“
„Wie?“
„Sei hier. Wirklich hier. Nicht nur körperlich, sondern … präsent. Hör auf, dich in Arbeit zu flüchten. Hör auf, schwierige Gespräche zu vermeiden.“ Sie nahm seine Hand. „Ich liebe dich, Marcus. Aber ich kann nicht die Einzige sein, die kämpft.“
Marcus drückte ihre Hand. „Ich weiß. Du hast recht.“
„Wirklich?“ Sie klang überrascht.
„Ja. Ich … ich war feige. Ich bin feige. Aber ich will es besser machen.“
Sarah lächelte, zum ersten Mal an diesem Abend. „Okay. Dann fangen wir morgen an. Bei meinen Eltern. Du kommst mit, du bist charmant, und du beschwerst dich nicht über meinen Vater.“
Marcus lachte. „Was ist mit deinem Vater?“
„Du weißt genau, was mit ihm ist.“
Er wusste es nicht. Aber er würde es herausfinden.
„Versprochen“, sagte er.
Sarah lehnte sich an ihn. „Danke.“
Sie saßen so eine Weile, in Stille. Marcus spürte ihren Atem, ihre Wärme. Und zum ersten Mal seit Tagen dachte er nicht daran, zurückzuspringen.
Vielleicht, dachte er, war das gar nicht so schlimm. Gefangen zu sein in einem besseren Leben.
Nachts, als Sarah schlief, schrieb Marcus eine Nachricht an M2.
„Wie läuft es in Helix-1?“
Die Antwort kam nach zehn Minuten: „Scheiße. Dein Leben ist deprimierend. Wie hältst du das aus?“
„Gewohnheit.“
„Deine Wohnung ist ein Desaster. Deine Arbeit ist langweilig. Du hast keine Freunde. Und Sarah ruft nicht an.“
Marcus starrte auf die Worte. Das war sein Leben. Zusammengefasst in vier Sätzen.
„Tut mir leid“, tippte er.
„Wofür?“
„Dass du da feststeckst.“
Sekunden vergingen. Dann: „Tut mir auch leid. Dass du hier feststeckst. Auch wenn mein Leben besser ist.“
„Ist es das?“
„Was meinst du?“
„Ist dein Leben wirklich besser? Oder nur anders?“
Keine Antwort kam.
Marcus legte das Handy weg, sah zur Decke. Sarah atmete gleichmäßig neben ihm.
Zwei Leben. Zwei Marcus. Beide unvollständig. Beide auf der Flucht vor etwas.
Vielleicht war das das Problem. Nicht die Welt, in der man lebte. Sondern die Person, die man war.
Die nächsten Tage entwickelten einen Rhythmus.
Morgens: Aufwachen neben Sarah. Frühstück zusammen. Zur Arbeit.
Tagsüber: Meetings, Projekte, Entscheidungen. Marcus lernte schnell. Die Namen der Kollegen. Die laufenden Projekte. Die Dynamiken im Team.
Abends: Nach Hause. Kochen mit Sarah. Reden. Wirklich reden.
Nachts: Nachrichten mit M2. Updates. Ratschläge. Langsam, vorsichtig, etwas wie Verständnis.
Am dritten Tag schrieb M2: „Ich habe deine Wohnung aufgeräumt. Die Kartons ausgepackt. Die Pflanze gegossen.“
„Die Pflanze lebt noch?“
„Kaum. Aber ja. Ich versuche es.“
„Danke.“
„Ich habe auch deine Mutter angerufen. Wir haben eine Stunde geredet. Sie ist … nett. Macht sich Sorgen um dich.“
„Was hast du ihr gesagt?“
„Dass es dir gut geht. Dass du nur beschäftigt bist. Sie hat nicht geglaubt, aber sie hat es akzeptiert.“
Marcus schloss die Augen. „Danke.“
„Hör auf, dich zu bedanken. Wir helfen uns gegenseitig. Das ist alles.“
„Ja. Das ist alles.“
Am nächsten Abend:
Das Abendessen mit Sarahs Eltern war … eine Herausforderung.
Ihr Vater – groß, graue Haare, durchdringender Blick – stellte Fragen. Viele Fragen.
„Und wie läuft es bei der Arbeit, Marcus?“
„Gut. Wir haben ein neues Projekt. Risikoanalyse für eine Produktlinie.“
„Klingt spannend. Und die Beförderung? Zufrieden?“
„Ja. Es ist … eine Herausforderung. Aber eine gute.“
„Gut, gut.“ Sarahs Vater lehnte sich zurück. „Und wann kann ich mit Enkelkindern rechnen?“
Sarah verschluckte sich an ihrem Wein. „Papa!“
„Was? Ich bin 68. Ich will sie noch kennenlernen, bevor ich sterbe.“
„Du stirbst nicht.“
„Das weißt du nicht. Statistisch gesehen—“
„Papa, bitte.“
Marcus lächelte, trotz allem. „Wir … reden darüber. Sarah und ich. Über die Zukunft.“
Sarahs Vater musterte ihn. „Gut. Reden ist gut. Aber irgendwann muss man auch handeln.“
„Ja. Das stimmt.“
Nach dem Essen, auf dem Weg nach Hause, sagte Sarah: „Tut mir leid. Er ist … intensiv.“
„Es ist okay. Er sorgt sich um dich.“
„Ja. Aber manchmal ist es zu viel.“ Sie nahm seine Hand. „Du warst gut heute. Geduldig. Charmant.“
„Ich habe es versucht.“
„Mehr als versucht.“ Sie küsste ihn auf die Wange. „Danke.“
Marcus drückte ihre Hand. Sagte nichts.
Aber in seinem Kopf dachte er: Das ist nicht mein Verdienst. Das ist M2s Leben. Ich spiele nur eine Rolle.
Aber vielleicht … vielleicht war das okay. Für jetzt.
Am fünften Tag spürte Marcus das Flackern wieder.
Schwach. Kaum wahrnehmbar. Aber da.
Er stand im Badezimmer, Morgen, Sarah noch im Bett. Schloss die Augen. Konzentrierte sich.
Das Flackern wurde stärker. Der Geschmack von Kupfer. Das Ziehen.
Er könnte springen. Zurück nach Helix-1. Zurück zu seinem alten Leben.
Aber …
Marcus öffnete die Augen. Sah in den Spiegel. Sein Gesicht, ohne graue Haare, ausgeruht.
Er könnte springen.
Aber wollte er?
Er griff nach seinem Handy.
„Spürst du es?“
Die Antwort kam sofort: „Ja. Das Flackern ist zurück.“
„Wir könnten tauschen. Zurück in unsere Leben.“
Die Antwort kam nicht sofort.
„Ja. Wir könnten.“
„Aber?“
„Aber … ich weiß nicht. Dein Leben ist scheiße, Marcus. Aber ich habe angefangen, es zu reparieren. Die Wohnung ist sauber. Ich habe mit deiner Mutter geredet. Ich habe die Pflanze am Leben gehalten. Wenn ich jetzt gehe … fällt alles wieder auseinander.“
Marcus las die Nachricht noch einmal. „Und ich … ich habe angefangen, dein Leben zu verstehen. Das Team. Sarah. Die Verantwortung. Wenn ich jetzt gehe …“
„… übernehme ich wieder. Und ich weiß nicht, ob ich bereit bin.“
„Was machen wir?“
„Ich weiß nicht.“
Marcus stand im Badezimmer, Handy in der Hand, und fühlte das Flackern pulsieren.
Eine Einladung. Eine Möglichkeit. Eine Wahl.
Aber keine klare Antwort.
„Lass uns warten“, schrieb er schließlich. „Noch ein paar Tage. Wir reparieren beide unsere Leben. Und dann … dann entscheiden wir.“
„Okay. Noch ein paar Tage.“
Marcus legte das Handy weg. Das Flackern war noch da, leise, im Hintergrund.
Aber er sprang nicht.
Nicht heute.
Möchtest du privat kommentieren? Schreib mir.