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Am achten Tag begann Marcus, sich zurechtzufinden.
Die Namen der Kollegen. Sarahs morgendliche Routine. Wo die Dinge in der Wohnung standen.
Die Nachrichten mit M2 waren regelmäßiger geworden. Praktische Updates, Warnungen, gelegentlich etwas, das fast wie Humor klang.
„Deine Mutter will nächste Woche zum Kaffee kommen. Habe zugesagt. Sorry.“
„Was hast du gesagt?“
„Dass du kommst. War das falsch?“
„Nein. Danke.“
„Übrigens, deine Quartalsberichte sind scheiße. Ich habe sie überarbeitet. Du schuldest mir was.“
Marcus hatte gelacht. Zum ersten Mal seit Tagen wirklich gelacht.
Vielleicht, dachte er, war das nicht so schlimm. Vielleicht konnten sie das hinbekommen. Zwei Leben, zwei Marcus, aber irgendwie im Gleichgewicht.
Dann kam der Kratzer.
Marcus bemerkte ihn am Morgen des achten Tages. Ein langer, roter Kratzer an seinem rechten Unterarm. Frisch, leicht blutend.
Er starrte darauf. Wann war das passiert? Gestern Abend? Heute Nacht?
Er konnte sich nicht erinnern.
Sarah kam aus dem Bad, sah den Kratzer. „Was ist das?“
„Keine Ahnung“, sagte Marcus. „Muss mich irgendwo gestoßen haben.“
„Sieht aus wie ein Katzenkratzer.“
„Wir haben keine Katze.“
„Ich weiß.“ Sarah runzelte die Stirn. „Seltsam.“
Sie ging zur Arbeit. Marcus blieb zurück, starrte auf den Kratzer.
Dann griff er nach seinem Handy.
„Hast du einen Kratzer am rechten Unterarm?“
Die Antwort kam sofort: „Ja. Woher weißt du das?“
„Ich habe auch einen.“
„Scheiße.“
„Was ist passiert?“
„Ich war gestern in deiner Wohnung. Habe versucht, die Gitarre zu bewegen. Sie ist umgefallen, die Saite hat mich erwischt.“
Marcus sah auf seinen Arm. Der Kratzer sah aus wie der, den M2 beschrieb. Übertragen. Von Helix-1 nach Helix-2. Vielleicht 60 %, wie bei den den früheren Tests. Aber deutlich genug.
„Es überträgt sich“, schrieb er.
„Offensichtlich.“
„Das ist nicht gut.“
„Nein. Ist es nicht.“
Marcus stand auf, ging zum Spiegel. Untersuchte seinen Körper. Waren da andere Veränderungen? Andere Übertragungen?
Ein kleiner blauer Fleck am linken Knie. Wann war der entstanden?
„Hast du einen blauen Fleck am linken Knie?“
„Ja. Bin gestern gegen deinen Couchtisch gelaufen. Deine Wohnung ist ein Hindernisparcours.“
Der blaue Fleck war auch übertragen worden.
Marcus setzte sich auf die Bettkante. Das war ein Problem. Ein ernstes Problem.
Wenn physische Veränderungen übertragen wurden, dann bedeutete das … was? Dass sie nicht wirklich getrennt waren? Dass die Verschränkung tiefer ging als gedacht?
„Wir müssen vorsichtig sein“, schrieb er.
„Ja. Keine Scheiße.“
„Ich meine es ernst. Wenn du dich verletzt, verletze ich mich. Wenn ich mich verletze—“
„Verstehe ich. Wir sind verbunden. Großartig.“
Marcus betrachtete den Kratzer. Eine neue Sorge kroch in ihm hoch.
Was, wenn die Übertragung nicht nur physisch war?
Am Nachmittag, im Büro, bemerkte Marcus das Buch.
Es lag auf seinem Schreibtisch. „Sterblichkeit und Bedeutung“ von Thomas Nagel. Ein philosophisches Werk über den Tod.
Marcus starrte darauf. Wann hatte er das gekauft? Er erinnerte sich nicht.
Er griff danach.
Seine Hand ging durch.
Marcus zuckte zurück. Was zur—
Er versuchte es noch einmal. Langsamer. Vorsichtiger.
Seine Finger berührten die Tischoberfläche. Kein Buch. Nur Holz.
Aber er sah es. Klar. Deutlich. Aufgeschlagen, mit Notizen in den Rändern. Dichte, analytische Handschrift. Fragen über Fragen.
„Was macht ein Leben bedeutsam?“
„Ist Bedeutung objektiv oder subjektiv?“
„Wenn ich in zwei Welten existiere, in welcher bin ich real?“
Marcus schloss die Augen. Atmete tief durch. Öffnete sie wieder.
Das Buch war noch da. Aber als er die Hand ausstreckte, war da nichts.
Eine Halluzination? Nein. Zu spezifisch. Zu real.
Dann traf es ihn: Das war keine Halluzination.
Das war eine Erinnerung.
M2s Erinnerung.
Marcus konzentrierte sich auf das Buch. Auf die Notizen. Und plötzlich war er nicht mehr in seinem Büro.
Er war in einer Buchhandlung. Hardenbergstraße. Der Geruch von alten Büchern. Das Regal mit Philosophie. Seine Finger – nein, M2s Finger – glitten über die Buchrücken.
„Sterblichkeit und Bedeutung.“
Er zog es heraus. Blätterte. Las den Klappentext.
„Eine Untersuchung darüber, was ein Leben bedeutsam macht, angesichts unserer Sterblichkeit.“
M2 kaufte das Buch. Ging zur Kasse. Die Kassiererin mit den roten Haaren lächelte.
„Interessante Wahl“, sagte sie.
„Ich versuche, etwas zu verstehen“, antwortete M2.
„Und? Hilft es?“
„Ich weiß es noch nicht.“
Marcus riss sich aus der Erinnerung. Keuchte. Sein Büro. Helix-2. Kein Buch auf dem Tisch.
Aber die Erinnerung war so stark, so real, dass seine Hände zitterten.
Er griff nach seinem Handy.
„Hast du ein Buch über Sterblichkeit gekauft?“
„Ja. Vor drei Tagen. Warum?“
„Ich sehe es. Hier. Auf meinem Schreibtisch. In Helix-2.“
Pause.
„Das ist nicht möglich. Objekte übertragen sich nicht.“
„Ich weiß. Aber ich sehe es. Ich kann es nicht anfassen, aber ich sehe es. Und ich erinnere mich … an den Kauf. An die Buchhandlung. An die Kassiererin mit den roten Haaren.“
Eine längere Pause.
„Scheiße.“
„Ja.“
„Das war meine Erinnerung. Nicht deine.“
„Ich weiß. Aber sie ist jetzt auch meine. Ich war da. Ich habe es erlebt. Durch dich.“
„Die Verschränkung wird stärker.“
„Ja.“
Marcus sah auf den Schreibtisch. Das Buch war noch da. Durchsichtig. Wie ein Geist.
„Es ist nicht nur physische Übertragung“, schrieb er. „Es sind Gedanken. Erinnerungen. Erfahrungen. Wir verschmelzen.“
„Hören wir auf zu existieren? Als getrennte Menschen?“
Marcus starrte auf das Geister-Buch. Auf die Fragen, die M2 geschrieben hatte. Die jetzt auch seine Fragen waren.
„Wenn ich in zwei Welten existiere, in welcher bin ich real?“
„Ich weiß nicht“, schrieb er.
Das Buch verblasste. Langsam. Bis nur noch der leere Schreibtisch übrig war.
Aber die Fragen blieben.
Am Abend war Sarah still.
Sie saßen beim Essen – Marcus hatte wieder gekocht, Routine half ihm, sich normal zu fühlen – aber Sarah aß kaum. Schob das Essen auf ihrem Teller hin und her.
„Alles okay?“ fragte Marcus.
„Ich weiß nicht.“ Sie sah ihn an. „Du bist anders.“
Marcus' Herz machte einen Sprung. „Was meinst du?“
„Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Du bist … aufmerksamer. Präsenter. Aber gleichzeitig … fremd. Als würde ich dich nicht ganz kennen.“
„Vielleicht verändern sich Menschen“, sagte Marcus vorsichtig.
„Nicht so schnell. Nicht über Nacht.“ Sarah legte ihre Gabel hin. „Vor einer Woche wolltest du nicht über Kinder reden. Jetzt stimmst du allem zu. Vor einer Woche hast du meine Eltern gemieden. Jetzt bist du charmant. Was ist passiert?“
Marcus' Verstand raste. Was sollte er sagen? Die Wahrheit? Unmöglich.
„Ich … habe nachgedacht“, sagte er. „Über uns. Über mein Leben. Ich habe gemerkt, dass ich Dinge ändern muss.“
„So funktioniert das nicht. Menschen ändern sich nicht einfach.“
„Warum nicht?“
„Weil …“ Sarah stockte. „Weil Veränderung Zeit braucht. Arbeit. Du kannst nicht einfach aufwachen und ein anderer Mensch sein.“
„Vielleicht kann ich das doch.“
Sarah sah ihn lange an. „Wer bist du?“
Die Frage hing in der Luft, schwer, gefährlich.
Sein Brustkorb wurde eng. Sie wusste es. Irgendwie wusste sie es.
„Ich bin Marcus“, sagte er.
„Welcher Marcus?“
Die Worte trafen ihn wie ein Schlag. Sie wusste es nicht. Konnte es nicht wissen. Aber irgendwie, auf einer unbewussten Ebene, spürte sie es.
„Was meinst du?“ Seine Stimme klang ruhiger als er sich fühlte.
Sarah schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht. Du bist … anders. Seit Tagen. Als wärst du nicht ganz du. Als wäre ein Teil von dir woanders.“
„Ich bin hier. Jetzt. Bei dir.“
„Bist du das?“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Oder bist du nur … anwesend? Körperlich hier, aber mental woanders?“
„Ich war woanders. Das stimmt. In meinem Kopf. In meinen Ängsten. Aber jetzt … jetzt bin ich hier. Wirklich hier. Ich verspreche es.“
Sarah sah ihn lange an. Ihre Augen suchten sein Gesicht, als würde sie nach etwas suchen. Nach dem Mann, den sie kannte.
„Du erinnerst dich nicht an Dinge“, sagte sie leise. „Kleine Dinge. Gestern habe ich von meiner Arbeit erzählt – das Gemälde, das ich seit Monaten restauriere – und du hast genickt, als würdest du zum ersten Mal davon hören.“
Marcus' Mund wurde trocken.
„Und du nennst mich Sarah.“ Ihre Stimme brach leicht. „Du nennst mich nie Sarah. Immer Sar. Seit dem ersten Tag. Aber seit einer Woche … bin ich Sarah.“
Die Worte trafen ihn wie ein Schlag. Die Details. Die kleinen, verräterischen Details.
„Ich …“ Marcus suchte nach Worten. „Ich war verwirrt. Gestresst. Die Arbeit—“
„Ich weiß, dass etwas nicht stimmt.“ Sarah unterbrach ihn. „Ich weiß es. Und du … du tust so, als wäre alles normal. Als würde ich mir das einbilden.“
„Du bildest dir nichts ein.“
„Was ist es dann?“ Ihre Stimme wurde lauter. „Sag es mir. Bist du krank? Hast du … hast du jemand anderen?“
„Nein. Nein, ich—“
„Dann was?“ Tränen liefen über ihre Wangen. „Wer bist du? Wirklich?“
Marcus schloss die Augen. Er könnte es ihr sagen. Jetzt. Die Wahrheit. Die unmögliche, verrückte Wahrheit.
Aber sie würde ihn nicht glauben. Würde denken, er wäre wahnsinnig.
„Ich bin Marcus“, sagte er leise. „Ich bin … ich war woanders. In meinem Kopf. In meinen Ängsten. Ich habe Dinge vergessen. Wichtige Dinge. Und das tut mir leid. Aber ich bin hier. Jetzt. Und ich versuche … ich versuche, zurückzufinden.“
Sarah sah ihn lange an. „Zurückzufinden. Von wo?“
„Ich weiß nicht.“
„Das ist keine Antwort.“
„Ich weiß.“ Marcus trat näher, aber sie wich nicht zurück. „Aber es ist die einzige, die ich dir geben kann. Ich kann dir nicht erklären, was passiert ist. Ich verstehe es selbst nicht. Aber ich bin hier. Ich will hier sein. Bei dir.“
Sarah schwieg. Ihre Augen waren rot, ihr Gesicht angespannt.
„Ich glaube dir nicht“, sagte sie schließlich. „Aber ich will dir glauben. Und das … das macht es schlimmer.“
„Sar—“
„Nein.“ Sie hob eine Hand. „Sag jetzt nichts. Ich brauche … ich brauche Zeit. Um nachzudenken.“
Marcus nickte, stumm.
„Ich gehe nicht weg“, sagte Sarah, als würde sie seine Gedanken lesen. „Aber ich brauche Abstand. Heute Nacht. Morgen. Ich weiß nicht.“
„Okay.“
Sie stand auf. „Ich brauche Luft.“
Sie ging auf den Balkon, schloss die Tür hinter sich. Marcus blieb am Tisch sitzen, starrte auf sein Essen.
Das war der erste echte Riss. Der erste Moment, in dem die Illusion zu bröckeln begann.
Er griff nach seinem Handy.
„Sarah merkt, dass etwas nicht stimmt.“
„Hier auch. Meine Sarah – deine Sarah – hat heute angerufen. Aus London. Wollte reden. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.“
„Was hast du gesagt?“
„Die Wahrheit. Teilweise. Dass ich mich verändert habe. Dass ich Fehler gemacht habe. Sie hat geweint.“
Marcus schloss die Augen. „Scheiße.“
„Ja.“
„Was machen wir?“
„Keine Ahnung. Aber wir können nicht so weitermachen. Die Risse werden größer.“
Marcus sah zum Balkon. Sarah stand dort, Arme um sich geschlungen, starrte in die Nacht.
„Wir müssen zurück“, schrieb er. „In unsere eigenen Leben.“
„Ich weiß. Aber wie? Der Sprung funktioniert … ich weiß nicht. Manchmal spüre ich das Flackern, manchmal nicht.“
„Bei mir auch. Es ist … unberechenbar.“
„Wir müssen es versuchen. Morgen. Gleichzeitig. Vielleicht funktioniert es, wenn wir beide wollen.“
„Okay. Morgen.“
Marcus legte das Handy weg.
Sarah kam vom Balkon zurück, setzte sich neben ihn. Sagte nichts. Legte nur ihren Kopf auf seine Schulter.
Marcus hielt sie fest. Spürte ihre Wärme. Ihre Realität.
Und dachte: Morgen. Morgen gehe ich zurück.
Aber ein Teil von ihm wollte nicht.
Nachts lag er wach, Sarah neben ihm. Sie hatte sich von ihm weggedreht, eine kleine, aber deutliche Distanz zwischen ihnen.
Der Kratzer an seinem Arm juckte. Marcus kratzte daran, ohne nachzudenken.
Dann hielt er inne.
Wenn er sich kratzte, kratzte sich M2 auch. Wenn M2 sich kratzte, kratzte er sich.
Sie waren verbunden. Untrennbar.
Zwei Körper, aber irgendwie … ein System.
Marcus schaute an die Decke. Die Risse im Putz – er hatte aufgehört, sie zu zählen.
Irgendwo, in Helix-1, lag M2 wach und starrte an dieselbe Decke. Oder eine andere Version davon.
Dachten sie dieselben Gedanken? Fühlten sie dieselben Ängste?
Waren sie noch zwei Menschen? Oder wurden sie langsam zu einem?
Die Frage hielt ihn wach bis zum Morgengrauen.
Am nächsten Morgen stand Marcus im Badezimmer. Sarah war schon zur Arbeit gegangen.
Er schloss die Augen. Konzentrierte sich. Wasser. Kalt. Loslassen.
Das Flackern kam. Schwach, aber da.
Der Geschmack von Kupfer. Das Ziehen.
Er ließ los.
Ein Atemzug. Oder eine Ewigkeit.
Dann …
Nichts.
Das Ziehen verschwand. Das Flackern erlosch.
Marcus öffnete die Augen. Immer noch Helix-2. Blaues Handtuch. Weißer Zahnbürstenbecher.
Er hatte nicht gesprungen.
Sein Handy vibrierte.
„Ich konnte auch nicht. Das Flackern war da, aber … ich konnte nicht greifen. Als würde etwas mich zurückhalten.“
„Bei mir auch.“
„Was hält uns zurück?“
Marcus sah in den Spiegel. Sein Gesicht ohne graue Haare. Ausgeruht. Das Gesicht von jemandem, der in Helix-2 gehörte.
„Vielleicht wir selbst“, schrieb er.
„Was meinst du?“
„Vielleicht … vielleicht funktioniert das Springen nur, wenn wir wirklich weg wollen. Wenn wir die Realität ablehnen. Aber jetzt …“
„… jetzt haben wir akzeptiert, wo wir sind.“
„Ja.“
Eine lange Pause.
„Scheiße.“
„Ja.“
Marcus legte das Handy weg. Starrte in den Spiegel.
Er war gefangen. Nicht weil er nicht springen konnte.
Sondern weil ein Teil von ihm nicht mehr wollte.
Aber vielleicht … vielleicht würde das Flackern zurückkommen.
Wenn sie sich entschieden. Wenn sie akzeptierten, wo sie waren.
Vielleicht war Akzeptanz nicht das Ende. Sondern der Anfang.
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