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Marcus begann, Notizen zu hinterlassen.
Nicht nur SMS. Richtige Notizen. Auf Papier, an Orten, wo nur M2 sie finden würde. In der Wohnung, im Büro, in Jackentaschen.
Die erste hinterließ er am zehnten Tag, auf dem Küchentisch in Helix-2, bevor er zur Arbeit ging.
„Deine Heizung macht Geräusche. Habe den Vermieter angerufen. Kommt Montag. – M1“
Als er am Abend zurückkam, lag ein Zettel daneben.
„Danke. Deine Pflanze lebt noch. Habe sie gegossen. Steht am Fenster. – M2“
Marcus lächelte. Das war … seltsam. Fürsorglich. Sie kümmerten sich umeinander. Um die Leben des anderen.
Die Notizen wurden häufiger.
„Anna fragt nach dem Projektbericht. Deadline ist Freitag. Datei ist in der Cloud unter ‚Oktober-Reports'.“
„Deine Mutter will nächste Woche zum Kaffee kommen. Habe zugesagt. Sorry.“
„Sarah mag keine Rosen. Nimm Tulpen. Gelbe.“
„Die Heizung in deiner Wohnung macht Geräusche. Habe den Vermieter angerufen. Kommt Montag.“
Kleine Dinge. Praktische Dinge. Aber sie summierten sich zu etwas Größerem.
Sie lebten nicht nur die Leben des anderen. Sie begannen, sich um diese Leben zu kümmern.
Am zwölften Tag kam die erste längere Nachricht.
Marcus fand sie in seinem Laptop, in einem neuen Dokument mit dem Titel „LIES MICH“.
M1,
Ich weiß, du denkst, mein Leben ist besser. Erfolgreicher.
Glücklicher. Und vielleicht ist es das. Oberflächlich.
Aber es ist auch anstrengend. Das Team verlässt sich auf mich.
Sarah erwartet, dass ich präsent bin, emotional verfügbar.
Ihre Eltern erwarten, dass ich Pläne habe, Zukunftsvisionen.
Ich habe das alles aufgebaut, weil ich dachte, es würde mich
glücklich machen. Die Beförderung. Die Beziehung. Das
„erfolgreiche“ Leben.
Aber weißt du, was das Lustige ist? Ich bin nicht glücklicher.
Ich bin nur anders beschäftigt. Anders abgelenkt.
Dein Leben ist einsam. Meins ist überfüllt. Aber beide sind
wir auf der Flucht vor derselben Sache.
Ich weiß nur nicht, was diese Sache ist.
– M2
P.S. Ich habe Vaters Gitarre hier. In Helix-1. Verstaubt,
ungestimmt. Sollte ich spielen lernen? Für wenn ich
zurückkomme. Für Sarah. Für Emma, vielleicht.
Marcus starrte auf den Text. Las ihn noch einmal. Noch einmal.
M2 war nicht glücklich. Trotz allem. Trotz Sarah, trotz der Beförderung, trotz des „besseren“ Lebens.
Er öffnete ein neues Dokument, begann zu tippen.
M2,
Du hast recht. Ich dachte, dein Leben wäre besser. Ich war
neidisch. Wütend. Ich dachte, du hättest alles, was ich
weggeworfen habe.
Aber jetzt, wo ich hier bin, verstehe ich es. Es ist nicht
besser. Es ist nur anders. Andere Probleme. Andere Ängste.
Du fragst, wovor wir weglaufen. Ich glaube, ich weiß es.
Wir laufen vor der Verantwortung weg. Vor der Entscheidung.
Vor dem Commitment.
Ich habe Sarah gehen lassen, weil ich Angst hatte, sie zu
bitten zu bleiben. Angst, dass ich nicht genug wäre. Angst
vor dem Versagen.
Du hast sie gebeten zu bleiben, aber du hältst sie auf Distanz.
Emotional. Du gibst ihr nicht alles, weil du Angst hast,
alles zu verlieren.
Wir sind beide Feiglinge. Nur auf unterschiedliche Weise.
Zur Gitarre: Lern spielen. Vater hätte das gewollt. Und
vielleicht … vielleicht ist es Zeit, dass wir aufhören,
nur seine Uhr zu tragen und anfangen, wirklich zu leben.
– M1
P.S. Wie kommen wir hier raus?
Er speicherte das Dokument, schloss den Laptop.
Am nächsten Morgen war eine Antwort da.
M1,
Du hast recht. Mit allem.
Ich habe heute mit Sarah geredet. Wirklich geredet. Über
Kinder, über Ängste, über die Zukunft. Es war schwer.
Aber gut.
Sie hat gesagt, sie will nicht, dass ich perfekt bin. Sie
will nur, dass ich ehrlich bin.
Ich versuche es. Ehrlich zu sein. Auch wenn es Angst macht.
Zum Rauskommen: Ich habe eine Theorie. Die Verschränkung
wurde stärker, je mehr wir gesprungen sind. Je mehr wir
versucht haben, zwei Leben gleichzeitig zu leben.
Vielleicht löst sie sich, wenn wir aufhören zu kämpfen.
Wenn wir akzeptieren, wo wir sind. Wenn wir uns committen.
Ich weiß nicht, ob das funktioniert. Aber ich spüre manchmal
das Flackern wieder. Ganz schwach. Als würde die Verschränkung
sich lockern.
Spürst du es auch?
– M2
Marcus schloss die Augen. Konzentrierte sich.
Ja. Da war etwas. Ein leichtes Ziehen. Nicht stark genug zum Springen, aber … präsent.
Er tippte: „Ja. Ich spüre es.“
Die Notizen wurden persönlicher.
„Erinnerst du dich an Vaters Beerdigung? Wie Mutter gesagt
hat, er hätte keine Angst gehabt? Vor dem Tod? Ich habe ihr
nicht geglaubt. Aber jetzt … vielleicht hatte er wirklich
keine Angst. Vielleicht hat er einfach gelebt, ohne ständig
über Alternativen nachzudenken."
„Sarah hat heute geweint. Nicht wegen mir. Wegen ihrer Arbeit.
Ein Gemälde, das sie nicht retten konnte. Zu beschädigt.
Sie hat gesagt, manche Dinge kann man nicht reparieren.
Man kann nur akzeptieren, dass sie kaputt sind. Ich glaube,
sie hat nicht nur über das Gemälde geredet."
Marcus las jede Notiz, mehrmals. Es fühlte sich an wie … ein Dialog mit sich selbst. Aber nicht mit sich selbst. Mit jemandem, der ihn verstand, weil er er war, aber auch nicht war.
Er schrieb zurück, immer.
Am fünfzehnten Tag bemerkte Marcus etwas Seltsames.
Er stand in der Küche, machte Kaffee.
Zwei Löffel Zucker. Ein Schuss Milch.
Er rührte um, trank.
Dann hielt er inne.
Er trank seinen Kaffee schwarz. Immer. Seit Jahren.
Aber das hier schmeckte … richtig. Vertraut.
Das war M2s Kaffee. M2s Geschmack.
Marcus stellte die Tasse ab. Seine Hand zitterte leicht.
Wann hatte er aufgehört, seinen eigenen Kaffee zu trinken?
Er griff nach seinem Handy.
„Trinkst du deinen Kaffee noch schwarz?“
Die Antwort kam nach Minuten: „Nein. Seit ein paar Tagen nehme ich Zucker. Keine Ahnung warum. Schmeckt einfach … richtig.“
„Ich trinke meinen mit Milch und Zucker. Seit heute.“
„Scheiße.“
„Ja.“
„Wir übernehmen die Gewohnheiten des anderen.“
„Nicht nur Gewohnheiten. Erinnerungen. Gedanken. Geschmack.“
„Wir verschmelzen.“
Marcus starrte auf die Nachricht. Das Wort hing schwer in der Luft.
Verschmelzen.
„Wo endet das?“ schrieb er.
„Ich weiß nicht. Vielleicht hören wir auf zu existieren. Als getrennte Menschen.“
„Und dann?“
„Dann gibt es nur noch … einen. Weder du noch ich. Sondern etwas Neues.“
Marcus lehnte sich gegen die Küchentheke. Seine Hände zitterten.
„Ich will nicht aufhören zu existieren.“
„Ich auch nicht.“
„Aber wie stoppen wir es?“
Keine Antwort kam. Lange Zeit.
Dann: „Vielleicht können wir es nicht stoppen. Vielleicht ist das der Preis. Für das Springen. Für das Spielen mit Realitäten.“
Marcus schloss die Augen.
Am siebzehnten Tag fand Marcus eine Notiz, die anders war.
Nicht auf Papier. Nicht digital. Sondern … gekritzelt auf den Badezimmerspiegel, mit Zahnpasta.
„Ich glaube, wir werden eins.“
Marcus Blick verlor sich in den Worten. Sein Puls beschleunigte.
Er wischte sie weg, schrieb mit zitternden Fingern zurück:
„Was meinst du?“
Am nächsten Morgen war die Antwort da:
„Ich denke deine Gedanken. Oder du denkst meine. Ich weiß nicht mehr, welche von mir sind. Gestern habe ich Kaffee gemacht, wie du ihn magst. Nicht wie ich ihn mag. Ich habe es erst gemerkt, als ich ihn getrunken habe.“
Er schrieb: „Ich habe gestern mit Sarah geredet, und ich wusste Dinge, die ich nicht wissen sollte. Erinnerungen, die nicht meine sind. Ihr erster Kuss. Ihre Lieblingsband. Dinge, die du weißt, nicht ich.“
„Scheiße.“
„Ja.“
„Gibt es noch einen Weg zurück?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wer sind wir dann? Du? Ich? Beide? Keiner?“
Marcus hatte keine Antwort. Er wischte die Worte weg, starrte in den Spiegel.
Sein Gesicht sah zurück. Aber wessen Gesicht war es?
Seins? M2s?
Gab es noch einen Unterschied?
An diesem Abend saß Marcus auf der Couch, Laptop auf den Knien. Sarah war bei einer Freundin. Er war allein.
Er öffnete ein neues Dokument. Schrieb:
M2,
Ich habe Angst.
Nicht vor dem Feststecken. Nicht vor den Konsequenzen.
Ich habe Angst, dass ich aufhöre zu existieren. Dass wir
beide aufhören zu existieren. Dass etwas Neues entsteht,
das weder du noch ich ist.
Ich habe Angst, dass ich vergesse, wer ich war. Wer ich
sein wollte.
Ich habe Angst, dass das alles – die Entdeckung, das Springen,
die zwei Leben – nur eine Flucht war. Eine weitere Möglichkeit,
mich nicht entscheiden zu müssen.
Aber jetzt muss ich mich entscheiden. Wir müssen uns entscheiden.
Wer wollen wir sein?
– M1
Er wartete. Eine Stunde. Zwei Stunden.
Dann erschien die Antwort, im selben Dokument, als würde jemand in Echtzeit tippen.
M1,
Ich habe auch Angst.
Aber vielleicht … vielleicht ist das okay. Angst zu haben.
Vater hatte Angst, aber er lebte trotzdem. Sarah hat Angst
vor der Zukunft, aber sie bleibt trotzdem. Anna hat Angst
vor Fehlern, aber sie trifft trotzdem Entscheidungen.
Vielleicht ist das Leben. Angst haben, aber trotzdem da sein.
Ich weiß nicht, wer wir sein werden. Aber ich weiß, wer ich
nicht mehr sein will.
Ich will nicht mehr weglaufen. Nicht mehr springen. Nicht
mehr zwei Leben leben, weil ich Angst habe, mich für eins
zu entscheiden.
Ich will hier sein. Wo immer „hier“ ist.
Und ich glaube … ich glaube, das Flackern wird stärker,
weil wir bereit sind. Bereit, uns zu entscheiden.
Spürst du es?
– M2
Marcus schloss die Augen. Konzentrierte sich.
Ja. Das Flackern war da. Stärker als gestern. Stärker als vor einer Stunde.
Nicht schmerzhaft. Nicht beängstigend.
Sondern … einladend. Wie eine offene Tür.
Er könnte springen. Jetzt. Zurück nach Helix-1.
Aber wollte er das?
Marcus öffnete die Augen, sah sich in der Wohnung um. Sarahs Jacke über dem Stuhl. Die restaurierte Gitarre an der Wand. Das Foto auf dem Regal.
Ein Leben. Nicht perfekt. Aber real.
Er tippte:
Ich spüre es.
Aber ich springe nicht.
Nicht heute.
Vielleicht morgen. Vielleicht nie.
Aber heute bleibe ich hier.
– M1
Die Antwort kam sofort:
Ich auch.
Ich bleibe auch.
– M2
Marcus lehnte sich zurück. Schloss den Laptop.
Das Flackern war noch da, leise, im Hintergrund.
Aber zum ersten Mal seit Tagen fühlte es sich nicht wie eine Fluchtmöglichkeit an.
Sondern wie eine Erinnerung.
Eine Erinnerung daran, dass es Alternativen gab. Aber dass er sich entschieden hatte.
Hier zu sein.
Jetzt.
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