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Das Krankenhaus roch nach Desinfektionsmittel und Angst.
Marcus rannte durch die Eingangshalle, vorbei an der Rezeption, folgte den Schildern zur Notaufnahme. Sein Atem ging schwer, sein Herz hämmerte.
Ein Baby. Sarah war schwanger.
Die Worte fühlten sich unwirklich an, zu groß, um sie zu begreifen.
Er fand sie in einem kleinen Untersuchungsraum, auf einer Liege sitzend, Beine angezogen, Arme um sich geschlungen. Sie sah klein aus. Verletzlich. Ihre Augen waren rot vom Weinen.
„Sarah.“
Sie sah auf. Für einen Moment war da Erleichterung in ihrem Gesicht. Dann verhärtete es sich wieder.
„Du bist gekommen.“
„Natürlich bin ich gekommen.“ Marcus trat näher, blieb dann stehen, unsicher. Durfte er sie berühren? Nach allem, was passiert war?
Sarah machte die Entscheidung für ihn. Stand auf, trat zu ihm, lehnte ihre Stirn gegen seine Brust. Nicht umarmend. Nur … da.
Marcus legte vorsichtig seine Arme um sie. Sie zitterte.
„Ich habe Angst“, flüsterte sie.
„Ich auch.“
Sie lachte, ein kurzes, bitteres Geräusch. „Du bist immer ehrlich, wenn es zu spät ist.“
„Es ist nicht zu spät.“
„Ist es nicht?“ Sie löste sich von ihm, sah ihn an. „Marcus, wir haben uns in den letzten Wochen auseinandergelebt. Du warst nicht du selbst. Ich war nicht ich selbst. Wir haben uns angeschrien, sind uns aus dem Weg gegangen. Und jetzt … jetzt gibt es ein Baby.“
Marcus schluckte. „Wie lange weißt du es?“
„Seit heute Nacht. Ich dachte, es wäre eine Magenverstimmung. Die Schmerzen. Aber dann …“ Sie setzte sich wieder auf die Liege. „Die Ärztin hat einen Ultraschall gemacht. Und da war es. Klein. Winzig. Aber da.“
„Kann ich …“ Marcus stockte. „Kann ich es sehen?“
Sarah griff nach einem Ausdruck auf dem Nachttisch. Reichte ihm das Ultraschallbild.
Marcus nahm es mit zitternden Händen. Starrte auf das verschwommene Schwarz-Weiß-Bild. Versuchte, etwas zu erkennen. Da – eine kleine Form. Kaum größer als eine Bohne.
Sein Kind.
Nein. Nicht seins.
„Zehn Wochen“, sagte Sarah leise. „Das bedeutet … erinnerst du dich? Anfang August. Dein Geburtstag.“
Marcus rechnete schnell. Zehn Wochen zurück. Anfang August.
Sein erster Sprung war am 17. Oktober gewesen. Vor sechs Wochen.
Das Baby war davor gezeugt worden. Vor der Entdeckung. Vor Helix-2. Vor allem.
Das war M2s Kind. Biologisch. Eindeutig.
M2 hatte mit Sarah geschlafen. M2 hatte dieses Leben gelebt. M2 hatte die Entscheidung getroffen, die zu diesem Moment geführt hatte.
Marcus war nur … der Eindringling. Der Dieb. Der Mann, der die Konsequenzen eines anderen lebte.
Aber die Erinnerung war da. Verschwommen, wie durch Nebel, aber da. Sarahs Lachen. Wein. Kerzen. Das Bett. Ihre Haut warm gegen seine. Der Moment, in dem—
Nein. Das war nicht seine Erinnerung. Das war M2s Erinnerung. Übertragen. Durchgesickert durch die Verschränkung.
Marcus spürte einen Stich in seiner Brust. Eifersucht? Trauer? Er wusste es nicht.
Das war M2s Kind. M2s Leben. M2s Sarah.
Und Marcus hatte es gestohlen.
„Marcus?“ Sarahs Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. „Erinnerst du dich?“
Er sah sie an. Ihre Augen, hoffnungsvoll, ängstlich. Sie wollte, dass er sich erinnerte. Dass dieser Moment ihnen gehörte. Beiden.
Aber er gehörte ihr und M2. Nicht ihm.
Marcus könnte die Wahrheit sagen. Jetzt. „Nein, ich erinnere mich nicht. Das war nicht ich. Das war jemand anders in meinem Körper.“
Aber was würde das ändern? Außer ihr Herz zu brechen?
„Ja“, sagte er leise. „Ich erinnere mich.“
Die Lüge schmeckte bitter auf seiner Zunge.
Sarah lächelte, erleichtert. „Es war ein schöner Abend.“
„Ja.“
„Und jetzt …“ Sie legte eine Hand auf ihren Bauch. „Jetzt ist da ein Baby. Unser Baby.“
Unser Baby.
Marcus sah auf das Ultraschallbild. Die kleine Form. Das Leben, das M2 erschaffen hatte.
Aber M2 war nicht hier. Marcus war hier. Marcus würde die Windeln wechseln, die Nächte durchwachen, die ersten Schritte sehen.
Biologisch war es M2s Kind.
Aber wer würde der Vater sein?
Marcus schloss die Augen. Dachte an seinen eigenen Vater. An die Uhr, die bei 14:37 stehengeblieben war. An die Gitarre, die er nie spielen gelernt hatte.
Sein Vater hatte ihn nicht gezeugt, um Vater zu sein. Er war Vater geworden, indem er da war. Präsent. Jeden Tag.
Vielleicht war Vaterschaft keine Frage der Biologie. Sondern der Entscheidung.
M2 hatte das Kind gezeugt.
Aber Marcus würde es großziehen.
Und vielleicht … vielleicht machte das sie beide zu Vätern. Auf unterschiedliche Weise.
Marcus öffnete die Augen. Sah auf das Ultraschallbild.
„Unser Baby“, wiederholte er. Und diesmal meinte er es.
Nicht weil er es gezeugt hatte. Sondern weil er sich entschied, da zu sein.
„Ich werde ein guter Vater sein“, sagte er. „Ich verspreche es.“
Sarah nahm seine Hand. „Ich weiß.“
Aber Marcus dachte: Ich verspreche es nicht nur dir. Ich verspreche es auch M2.
Ich werde für dein Kind da sein. Weil du es nicht sein kannst.
Weil wir beide es sind. Irgendwie.
Sarah sah ihn lange an. „Manchmal glaube ich dir nicht. Wenn du sagst, du erinnerst dich. Es fühlt sich an, als würdest du raten. Als würdest du eine Rolle spielen.“
Marcus' Herz verkrampfte sich. Sie wusste es. Nicht die Details, nicht die Wahrheit, aber sie spürte es.
„Ich …“ Er setzte sich neben sie. „Du hast recht. Ich war nicht ganz da. In den letzten Wochen. Ich war … woanders. In meinem Kopf. In meinen Ängsten.“
„Wovor hast du Angst?“
„Vor allem.“ Die Worte kamen, bevor er sie stoppen konnte. „Vor Versagen. Vor Verantwortung. Vor der Zukunft. Vor … vor dem Vater-Sein.“
Sarah nahm seine Hand. „Ich auch.“
„Du?“
„Natürlich. Denkst du, ich habe keine Angst?“ Sie lachte, tränenerstickt. „Ich habe Angst, Marcus. Ich weiß nicht, wie man ein Kind großzieht. Ich weiß nicht, ob ich eine gute Mutter bin. Ich weiß nicht, ob wir das schaffen.“
„Aber du willst es? Das Baby?“
Sarah schwieg einen langen Moment. Dann: „Ja. Ich will es. Auch wenn ich Angst habe. Auch wenn alles unsicher ist.“ Sie sah ihn an. „Und du?“
Marcus sah auf das Ultraschallbild in seiner Hand. Die kleine Form. Das Potential eines Menschen. Eines Lebens.
Er dachte an seinen Vater. An die Uhr, die bei 14:37 stehengeblieben war. An die Gitarre, die er nie spielen gelernt hatte. An all die Dinge, die sein Vater nicht mehr tun konnte, weil die Zeit aufgehört hatte.
Hier war Zeit. Hier war Zukunft. Hier war Leben, das noch nicht gelebt worden war.
„Ja“, sagte er. „Ich will es.“
Sarah begann zu weinen. Richtig zu weinen, diesmal. Marcus zog sie an sich, hielt sie fest.
„Wir schaffen das“, flüsterte er. „Ich weiß nicht wie. Aber wir schaffen das.“
„Versprichst du das?“
„Ja.“
„Auch wenn es schwer wird?“
„Besonders dann.“
Sarah lehnte sich an ihn, und sie saßen so, lange, während um sie herum das Krankenhaus lebte. Schritte im Flur. Stimmen. Das Piepen von Maschinen. Leben und Tod, so nah beieinander.
Marcus' Handy vibrierte. Er zog es aus der Tasche, vorsichtig, um Sarah nicht zu stören.
Eine Nachricht von M2.
„Wie geht es ihr?“
„Gut. Dem Baby auch.“
„Gut.“
Eine Pause. Dann:
„Ich habe mit deiner Sarah gesprochen. In London. Habe versucht, es zu erklären. Nicht alles. Aber genug. Dass du verwirrt warst. Dass du Fehler gemacht hast. Dass du es bereust.“
„Was hat sie gesagt?“
„Dass sie Zeit braucht. Aber sie hat nicht aufgelegt. Das ist etwas.“
Marcus schloss die Augen. „Danke.“
„Ich habe auch mit Anna gesprochen. Und mit deiner Mutter. Versuche, die Scherben aufzusammeln.“
„Ich auch. Hier.“
„Wir sind ein gutes Team. Wenn wir nicht gerade versuchen, uns gegenseitig zu zerstören.“
Marcus lächelte, trotz allem. „Ja.“
„Das Baby … es ist echt, oder? Es ist nicht nur in einer Welt. Es ist in beiden.“
Marcus sah auf Sarah, die gegen ihn gelehnt schlief, erschöpft. Dann auf das Ultraschallbild.
„Ja. Es ist in beiden.“
„Dann müssen wir beide dafür sorgen, dass es eine Welt hat, in die es geboren werden kann. Eine, die nicht kaputt ist.“
„Einverstanden.“
„Geh nach Hause. Lass sie schlafen. Ich kümmere mich um den Rest.“
„Was ist der Rest?“
„Alles. Die Wohnung. Die Arbeit. Die Beziehungen. Alles, was wir kaputt gemacht haben. Ich repariere es. Du bleibst bei Sarah. Das ist wichtiger.“
„Warum?“
„Weil das Baby in deiner Welt ist. In Helix-2. Ich bin in Helix-1. Ich kann die Grundlage reparieren. Du musst die Zukunft bauen.“
„Das ist nicht fair. Du machst die ganze Arbeit.“
„Nein. Du machst die schwerere Arbeit. Du musst Vater werden. Ich muss nur Rechnungen bezahlen und Entschuldigungen aussprechen.“
Marcus lächelte. „Danke.“
„Hör auf, dich zu bedanken. Wir sind dasselbe. Wenn ich dir helfe, helfe ich mir.“
„Sind wir das? Dasselbe?“
Eine lange Pause.
„Ich weiß nicht mehr. Aber vielleicht ist das okay. Vielleicht müssen wir nicht wissen, wo du aufhörst und ich anfange. Vielleicht müssen wir nur … da sein. Für das, was kommt.“
Marcus las die Worte noch einmal. Dann schrieb er:
„Ich spüre das Flackern. Stärker als je zuvor. Ich könnte springen. Zurück nach Helix-1.“
„Ich auch. Ich könnte zurück nach Helix-2.“
„Aber?“
„Aber ich will nicht. Nicht jetzt. Vielleicht später. Vielleicht nie. Aber jetzt … jetzt bin ich hier. Und du bist dort. Und das ist okay.“
Marcus sah auf Sarah. Auf das Ultraschallbild. Auf die Zukunft, die in seinen Händen lag.
„Ja“, schrieb er. „Das ist okay.“
Eine Ärztin kam herein, jung, müde, aber lächelnd.
„Frau Bergmann? Sie können nach Hause. Alles ist in Ordnung. Aber Sie sollten sich ausruhen. Und nächste Woche einen Termin bei Ihrem Gynäkologen machen.“
Sarah nickte, halb schlafend.
Marcus half ihr auf, stützte sie. Sie lehnte sich schwer gegen ihn.
„Kommst du mit nach Hause?“ fragte sie leise.
„Ja.“
„Bleibst du?“
„Ja.“
„Auch morgen?“
„Auch morgen.“
„Und übermorgen?“
Marcus hielt sie fest. „So lange du mich haben willst.“
Sarah sah zu ihm hoch. „Das könnte sehr lange sein.“
„Gut.“
Sie gingen langsam durch die Flure, vorbei an anderen Patienten, anderen Leben, anderen Geschichten. Marcus hielt Sarah fest, und zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich … geerdet. Präsent. Hier.
Draußen war es noch dunkel. Die Straßen leer. Berlin schlief.
Sie nahmen ein Taxi. Sarah schlief auf Marcus' Schulter ein. Er sah aus dem Fenster, beobachtete die Stadt vorbeiziehen.
Sein Handy vibrierte. Eine letzte Nachricht von M2.
„Ich glaube, wir haben es geschafft.“
„Was?“
„Uns entschieden. Wir haben aufgehört zu springen. Aufgehört zu kämpfen. Wir haben uns entschieden, wo wir sein wollen.“
„Und wo ist das?“
„Hier. Jetzt. In dem Leben, das wir haben. Nicht in dem, das wir hätten haben können.“
Marcus lächelte. „Ja.“
„Das Baby wird in sechs Monaten geboren. Bist du bereit?“
„Nein.“
„Ich auch nicht. Aber wir machen es trotzdem.“
„Ja. Wir machen es trotzdem.“
Das Taxi hielt vor der Wohnung. Marcus half Sarah hinaus, die Treppen hoch, in die Wohnung.
Sie gingen direkt ins Schlafzimmer. Sarah zog sich aus, kroch unter die Decke. Marcus legte sich neben sie, voll angezogen, zu müde, um sich umzuziehen.
Sarah drehte sich zu ihm, legte eine Hand auf seine Brust.
„Marcus?“
„Ja?“
„Ich liebe dich. Auch wenn ich manchmal nicht verstehe, wer du bist.“
Marcus' Herz zog sich zusammen. „Ich liebe dich auch.“
„Wer bist du? Wirklich?“
Marcus dachte nach. Eine lange Zeit. Dann:
„Ich bin jemand, der lernt, hier zu sein. Jemand, der aufhört wegzulaufen. Jemand, der Vater werden will, auch wenn er Angst hat.“
Sarah sah ihn lange an. Ihre Augen suchten sein Gesicht, als würde sie nach etwas suchen. Nach dem Marcus, den sie kannte.
„Das ist keine Antwort“, sagte sie schließlich.
„Ich weiß.“
„Aber es ist die einzige, die du mir geben kannst.“
„Ja.“
Sie schwieg. Dann: „Okay. Dann ist das genug.“ Sie nahm seine Hand. „Sei einfach hier. Das ist alles, was ich will.“
„Ich bin hier“, sagte Marcus.
Aber die Lüge lag zwischen ihnen. Klein. Aber wachsend.
Sie schlief ein.
Marcus lag wach, starrte an die Decke. Das Flackern war noch da, leise, im Hintergrund. Die Möglichkeit zu springen. Zurückzukehren. Zu fliehen.
Aber er bewegte sich nicht.
Er war hier. Jetzt. Mit Sarah. Mit dem Baby, das in sechs Monaten geboren werden würde.
Das war genug.
Das war alles.
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