Zuvor

Monat 4 – Januar

Das erste Mal klappte es noch.

Marcus – M1 – stand in der Wohnung, Helix-2, und konzentrierte sich. Der Ultraschalltermin war in zwei Stunden. Der wichtige. Der, bei dem sie das Geschlecht erfahren würden.

Aber das sollte nicht er sein. Das sollte M2 sein. Der echte Partner. Der, der die letzten drei Jahre mit Sarah gelebt hatte. Der, der das Baby gezeugt hatte.

Marcus schloss die Augen. Suchte nach dem Flackern.

Es kam, schwächer als früher, aber noch da. Der Geschmack von Kupfer. Das Ziehen.

Er ließ los.

Drei Sekunden.

Dann: Helix-1. Seine alte Wohnung. Kalt, aber aufgeräumter als früher. M2 hatte geputzt, repariert, gelebt.

Sein Handy vibrierte sofort. M2.

„Danke. Bin in 10 Min beim Termin.“

„Viel Glück.“

„Sag Bescheid, was es wird.“

„Versprochen.“

Marcus setzte sich auf die Couch – seine Couch, aber nicht seine – und wartete.

Nach zwei Stunden kam die Nachricht:

„Ein Mädchen.“

Ein Mädchen. Seine Tochter. Sein-nicht-seine Tochter.

„Wie geht es Sarah?“

„Sie weint. Vor Freude. Sie will, dass wir sie Emma nennen.“

„Emma ist schön.“

„Ja.“

Eine Pause. Dann:

„Ich tausche zurück. In einer Stunde. Okay?“

„Okay.“

Eine Stunde später spürte Marcus das Flackern. Schloss die Augen. Ließ los.

Und er war zurück in Helix-2. Sarah saß auf der Couch, Ultraschallbild in der Hand, Tränen auf den Wangen.

„Marcus.“ Sie sah auf. „Wir bekommen eine Tochter.“

Marcus setzte sich neben sie, nahm ihre Hand. „Ich weiß. Emma.“

Sarah lächelte. „Du warst so still beim Termin. Ich dachte, du wärst enttäuscht.“

„Nein. Nur … überwältigt.“

„Ich auch.“

Sie lehnte sich an ihn, und Marcus hielt sie fest. Spürte die Schuld in seiner Brust.

Das war nicht sein Moment gewesen. Das war M2s Moment gewesen.

Aber Sarah wusste das nicht. Würde es nie wissen.


Monat 5 – Februar

Die nächsten Wochen verschwammen. Gelegentliche Sprünge, immer schwieriger, immer schmerzhafter. M2 besuchte Sarah und Emma durch Marcus' Körper. Marcus besuchte sein altes Leben, sah zu, wie M2 es reparierte.

Die Pflanze in Helix-1 wuchs. Grün. Lebendig.

Aber das Flackern wurde schwächer.


Monat 6 – März

Der dritte Tausch war ein Notfall.

Sarah hatte Wehen. Falsche Wehen, wie sich herausstellte, aber in dem Moment war Marcus – M1 – in Panik.

Er rief M2 an. „Wir müssen tauschen. Jetzt.“

„Ich versuche es.“

Sie versuchten es gleichzeitig. Marcus in Helix-2, M2 in Helix-1. Beide konzentrierten sich, suchten nach dem Flackern.

Es kam nicht.

„Scheiße“, flüsterte Marcus. Sarah lag im Bett, atmete schwer, hielt ihren Bauch.

„Marcus?“ Ihre Stimme war angespannt. „Rufst du den Krankenwagen?“

„Ja. Sofort.“

Er rief an. Der Krankenwagen kam. Sie fuhren ins Krankenhaus.

Die ganze Zeit über versuchte Marcus zu springen. Immer wieder. Verzweifelt.

Nichts.

Im Krankenhaus stellte die Ärztin fest: Falsche Wehen. Übungswehen. Normal im sechsten Monat.

„Alles ist okay“, sagte sie. „Aber Sie sollten sich ausruhen, Frau Bergmann.“

Sarah nickte, erleichtert. Marcus hielt ihre Hand, fühlte sich wie ein Betrüger.

Das hätte M2 sein sollen. Der echte Partner.

Später, zu Hause, kam eine Nachricht.

„Ich habe es gespürt. Die Panik. Die Wehen. Aber ich konnte nicht springen. Egal wie sehr ich es versucht habe.“

„Ich auch nicht.“

„Es wird schlimmer.“

„Ja.“

„Was, wenn ich nicht dabei sein kann? Bei der Geburt?“

Das war die Frage, die er sich nicht zu stellen getraut hatte.

„Dann bin ich dabei. Und ich erzähle dir alles. Jedes Detail.“

„Das ist nicht dasselbe.“

„Ich weiß.“

Eine lange Pause.

„Ich habe Angst, dass ich sie nie kennenlernen werde. Meine Tochter.“

Marcus schloss die Augen. „Du wirst. Irgendwie. Wir finden einen Weg.“

„Versprichst du das?“

„Ja.“

Aber Marcus wusste nicht, ob er dieses Versprechen halten konnte.


Monat 7 & 8

Marcus ging die Treppen hoch – vier Stockwerke – und zählte nicht.

Kam oben an, und erst dann fiel ihm auf: Er hatte nicht gezählt. Zum ersten Mal seit … wann? Jahren?

Er ging zurück nach unten. Stieg wieder hoch.

Zählte nicht.

Sein Gehirn hatte aufgehört. Einfach so.

Vielleicht war das Heilung. Nicht dramatisch. Nicht plötzlich.

Sondern still. Unmerklich.

Das Aufhören zu zählen.

Und genauso: der Versuch zu tauschen.

Es funktionierte nicht. Das Flackern war fast verschwunden.

Stattdessen kommunizierten sie. Täglich.

M2 schickte Fragen:

„Wie fühlt sich Emma an, wenn sie tritt?“

„Singt sie dem Baby vor?“

Marcus antwortete, so detailliert er konnte. Jedes Treten. Jedes Lied. Jeder Moment.

M2 lebte die Schwangerschaft durch ihn. Und Marcus … Marcus lernte, Vater zu sein. Für beide.

M2 schickte auch Updates aus Helix-1:

„Habe mit Anna geredet. Die Kündigungssache war ein Missverständnis, habe ich gesagt. Sie war skeptisch, aber erleichtert. Dein Job ist sicher.“

„Deine Sarah kommt nächsten Monat. Wir treffen uns zum Kaffee.“

„Habe angefangen, Gitarre zu lernen. Für Emma. Auch wenn ich sie nie spielen höre.“


Monat 9 – Juni

Das Flackern war fast weg.

Marcus spürte es manchmal noch, spät nachts, wenn Sarah schlief. Ein schwaches Echo. Eine Erinnerung an etwas, das einmal möglich war.

Er versuchte nicht mehr zu springen. Es hatte keinen Sinn.

Stattdessen schrieb er M2:

„Ich glaube, das ist es. Wir können nicht mehr tauschen.“

„Ich weiß.“

„Du wirst nicht bei der Geburt sein können.“

„Ich weiß.“

„Es tut mir leid.“

Eine lange Pause. Dann:

„Mir auch. Aber … vielleicht ist das okay. Vielleicht war das immer der Plan. Dass einer von uns da ist. Dass einer von uns Vater wird. Und der andere … der andere lebt ein anderes Leben.“

„Welches Leben?“

„Ich weiß nicht. Aber ich finde es heraus. Deine Sarah kommt morgen. Wir treffen uns zum Kaffee. Vielleicht … vielleicht gibt es auch hier eine Zukunft.“

Marcus lächelte, trotz der Traurigkeit. „Ich hoffe es.“

„Marcus?“

„Ja?“

„Wenn Emma geboren wird … halt sie für mich. Nur für einen Moment. Und sag ihr … sag ihr, dass ihr Vater sie liebt. Auch wenn er nicht da sein kann.“

Marcus' Augen brannten. „Sie hat einen Vater. Mich. Uns. Wir sind beide ihr Vater.“

„Ja. Wir sind beide ihr Vater.“

„Ich verspreche es. Ich halte sie. Für uns beide.“

„Danke.“

Marcus legte das Handy weg. Sah aus dem Fenster. Die Stadt schlief noch, aber bald würde sie erwachen.

Und dann würde Emma kommen.

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