Zuvor

Es begann mit der Gitarre.

Marcus sprang nach Helix-1 – nur für einen Moment, um zu sehen, wie M2 sein Leben reparierte.

Das Flackern war zurückgekommen. Schwach, aber nutzbar. Seit ein paar Tagen. Kurze Sprünge waren wieder möglich.

Der Sprung kam, mühsam, schmerzhaft.

Helix-1. Seine Wohnung.

Er ging zur Ecke, wo Vaters Gitarre immer gestanden hatte. Verstaubt. Ungestimmt. Seit Jahren unberührt.

Seine Gitarre. Die originale. Die, die Vater ihm hinterlassen hatte.

Und nun: Weg.

Nur ein Staubkreis auf dem Boden. Die Form der Gitarre, abgezeichnet im Dreck.

Marcus stand vor der leeren Stelle, unfähig sich zu bewegen. Sein Herz begann zu hämmern.

Er griff nach seinem Handy, tippte mit zitternden Fingern:

„Wo ist die Gitarre?“

Die Antwort kam nach fünf Minuten: „Verkauft.“

Das Wort brannte sich in sein Gedächtnis. Las es noch einmal. Noch einmal.

„WAS?“

„Ich habe sie verkauft. Auf eBay. Für 800 Euro.“

„DAS WAR VATERS GITARRE.“

„Ich weiß. Aber ich brauche das Geld. Deine Wohnung ist ein Geldgrab. Heizung kaputt, Waschmaschine kaputt, der Vermieter will eine Nachzahlung. Ich musste Prioritäten setzen.“

„DAS WAR NICHT DEINE ENTSCHEIDUNG.“

„Doch. War es. Ich lebe in deinem Leben. Ich treffe die Entscheidungen. Und du? Du hast in meinem Bett geschlafen. Mit meiner Sarah.“

Marcus' Hände ballten sich zu Fäusten. Die Wut, die in ihm hochkochte, war physisch, überwältigend. Er wollte etwas schlagen, zerstören, schreien.

Stattdessen tippte er: „Du hättest mich fragen können.“

„Wie du mich gefragt hast, bevor du mit meiner Sarah geschlafen hast?“

Die Worte trafen ihn wie ein Schlag.

„Ich habe nicht—“

„Lüg mich nicht an. Ich spüre es. Die Erinnerungen übertragen sich, weißt du noch? Ich weiß, was du getan hast. In meinem Bett. Mit meiner Freundin.“

Marcus schloss die Augen. Es stimmte. Vor einer Woche. Sarah hatte ihn geküsst, und er hatte nicht aufgehört. Hatte sich gesagt, es sei okay, es sei auch sein Leben, auch seine Sarah.

Aber das war eine Lüge gewesen.

„Es tut mir leid“, tippte er.

„Zu spät. Die Gitarre ist weg. Wir sind quitt.“

Marcus las die Worte noch einmal. Dann, langsam, tippte er:

„Nein. Sind wir nicht.“


Tag 19:

Marcus kam ins Büro – Helix-2 – und fand sein Computer-Passwort geändert. Alle Dateien verschlüsselt. Eine Notiz auf dem Bildschirm:

„Viel Spaß beim Erklären, warum du nicht arbeiten kannst. – M2“

Marcus verbrachte drei Stunden mit der IT, erfand eine Geschichte über einen Hack, ließ alles zurücksetzen.

Am Abend änderte er M2s Passwörter. Alle. Email, Cloud, Banking.

Hinterließ eine Nachricht: „Zwei können dieses Spiel spielen.“


Tag 20:

Marcus wachte auf und fand eine SMS von Sarahs Mutter: „Ich verstehe nicht, warum du abgesagt hast. Sarah ist sehr verletzt.“

Abgesagt? Was hatte M2 getan?

Er rief Sarah an. Sie ging nicht ran.

Er schrieb M2: „Was hast du getan?“

„Deine Sarah hat angerufen. Aus London. Wollte reden. Ich habe ihr gesagt, dass du weitermachen willst. Ohne sie. Dass du jemand anderen getroffen hast.“

„DAS IST NICHT WAHR.“

„Doch. Ist es. Du hast meine Sarah. Ich habe deine zerstört. Fair.“

Marcus schleuderte das Handy gegen die Wand. Es knallte gegen den Putz, fiel zu Boden.

Er rief Sarah an – Helix-1-Sarah, in London. Sie ging ran, aber ihre Stimme war kalt.

„Was willst du, Marcus?“

„Ich … das war nicht ich. Am Telefon. Das war—“ Er stockte. Was sollte er sagen? Die Wahrheit? Unmöglich.

„Das warst du. Deine Stimme. Deine Worte.“ Sie atmete zitternd. „Ich dachte, wir hätten eine Chance. Ich dachte, vielleicht, wenn ich zurückkomme … aber du hast schon weitergelebt. Ohne mich.“

„Sarah, bitte—“

„Lass mich in Ruhe, Marcus.“

Sie legte auf.

Marcus saß auf dem Boden, das zerbrochene Handy in der Hand.

Sarahs Stimme hallte noch in seinem Kopf. Kalt. Endgültig.

Er hatte sie verloren. Beide Sarahs. In beiden Welten.

M2 hatte recht gehabt. Das war fair. Marcus hatte seine Sarah genommen. M2 hatte seine zerstört.

Gleichgewicht.

Aber es fühlte sich nicht wie Gleichgewicht an. Es fühlte sich an wie … Selbstzerstörung.

Marcus lehnte seinen Kopf gegen die Wand. Schloss die Augen.

Was hatten sie getan?


Tag 21:

Marcus öffnete seine Email – Helix-2 – und fand eine Nachricht vom Vermieter.

„Kündigungsbestätigung. Auszug in vier Wochen.“

M2 hatte seine Wohnung gekündigt. Unterschrieben, bezahlt, erledigt.

Er schrieb: „Wo soll ich wohnen?“

„Nicht mein Problem. Du hast mein Leben. Ich habe deins zerstört. Gleichgewicht.“

Marcus stand auf, ging zur Küche. Öffnete den Laptop. Fand M2s Arbeitsdateien.

Löschte alles. Systematisch. Projektberichte, Präsentationen, Datenanalysen. Jahre von Arbeit.

Leerte den Papierkorb.

Schrieb: „Gleichgewicht.“


Tag 22:

Marcus kam nach Hause – Helix-2 – und Sarah war nicht da.

Auf dem Küchentisch lag ein Zettel:

„Ich bin bei meinen Eltern. Ich brauche Zeit. Du bist nicht du selbst, Marcus. Ich weiß nicht, wer du bist, aber du bist nicht der Mann, den ich liebe. Ruf mich nicht an.“

Marcus las den Zettel noch einmal. Noch einmal.

Er ging durchs Wohnzimmer. Sarahs Jacke war weg. Ihre Schuhe. Die Zahnbürste im Bad.

Sie hatte nicht nur Zeit gebraucht. Sie war gegangen.

Wirklich gegangen.

Genau wie in Helix-1.

Weg. Wegen ihm. Wegen M2. Wegen ihnen beiden.

Er schrieb M2: „Sarah ist weg.“

„Ich weiß. Deine auch. Beide Sarahs. Weg. Glückwunsch.“

„Das wolltest du?“

„Ich wollte, dass du aufhörst, mein Leben zu stehlen. Aber jetzt … jetzt haben wir beide nichts mehr.“

Marcus setzte sich auf die Couch. Die Wohnung war still. Leer. Leblos.

Er hatte gedacht, M2s Leben wäre besser. Voller. Glücklicher.

Jetzt war es genauso leer wie seins.

Nein. Leerer. Weil er es zerstört hatte.


Tag 23:

Die Notizen wurden kürzer. Bitterer.

Marcus sprang nach Helix-1. Nur für einen Moment.

Er wollte sehen, was M2 getan hatte. Wollte das Ausmaß verstehen.

Die Wohnung war … leer. Nicht nur aufgeräumt. Leer.

Die Bücher: weg. Vaters alte Schallplatten: weg. Die Fotos von der Wand: weg.

Nur die Möbel waren noch da. Und die Pflanze. Die grüne, lebendige Pflanze.

Marcus stand im Wohnzimmer und fühlte … nichts.

M2 hatte seine Vergangenheit gelöscht. Systematisch.

Und Marcus? Marcus hatte M2s Zukunft zerstört.

Gleichgewicht.

Er sprang zurück. Schrieb:

„Habe deine Mutter angerufen. Ihr gesagt, dass du sie hasst. Sie hat geweint.“

„Habe Anna erzählt, dass du kündigst. Sie war enttäuscht.“

„Habe alle deine Bücher in den Müll geworfen. Auch die von Vater.“

„Habe dein Bankkonto geleert. Alles gespendet. An eine Stiftung für Waisenkinder. Vater hätte das lustig gefunden.“

Marcus las die Nachrichten und fühlte … nichts mehr.

Keine Wut. Keine Trauer. Nur Leere.

Sie zerstörten sich gegenseitig. Systematisch. Gründlich.

Und wofür?

Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie es angefangen hatte. Die Gitarre? Sarahs Anruf? Etwas davor?

Es spielte keine Rolle mehr.


Tag 24:

Marcus saß auf der Couch, starrte an die Decke. Hatte seit zwei Tagen nicht gegessen. Nicht geschlafen. Nicht geduscht.

Sein Handy vibrierte. Eine Nachricht von M2.

„Ich bin müde.“

„Ich auch“, tippte er.

„Was machen wir?“

„Ich weiß nicht.“

Eine lange Pause. Dann:

„Ich glaube, wir sterben.“

Marcus runzelte die Stirn. „Was?“

„Nicht physisch. Aber … wir hören auf zu existieren. Als getrennte Menschen. Ich spüre es. Deine Gedanken sind meine Gedanken. Deine Erinnerungen sind meine Erinnerungen. Ich weiß nicht mehr, wo ich aufhöre und du anfängst.“

Marcus schloss die Augen. Es stimmte. Er spürte es auch.

Wenn er an Sarah dachte, wusste er nicht mehr, welche Sarah. Wenn er an Vater dachte, vermischten sich die Erinnerungen. Die Beerdigung in Helix-1. Die Gitarre in Helix-2. Alles verschwamm.

„Was passiert, wenn wir komplett verschmelzen?“ schrieb er.

„Ich weiß nicht. Vielleicht hören wir auf zu existieren. Vielleicht werden wir etwas Neues. Vielleicht …“

Die Nachricht brach ab.

Marcus wartete. Fünf Minuten. Zehn.

Dann: „Vielleicht ist das die Strafe. Für das Springen. Für das Spielen mit Leben. Wir verlieren unsere Identität.“

Marcus senkte den Blick. Dann tippte er:

„Ich will nicht aufhören zu existieren.“

„Ich auch nicht.“

„Was machen wir?“

Keine Antwort kam.


Tag 25, 3:47 Uhr morgens:

Marcus' Handy klingelte.

Er griff danach, halb schlafend. „Hallo?“

„Marcus?“ Sarahs Stimme. Helix-2-Sarah. Aber anders. Atemlos. Verängstigt.

„Sarah? Was—“

„Ich bin im Krankenhaus.“

Marcus setzte sich auf, hellwach. „Was? Warum? Was ist passiert?“

„Ich …“ Ihre Stimme brach. „Ich bin schwanger.“

Die Welt hörte auf sich zu drehen.

„Was?“

„Ich bin schwanger, Marcus. Zehn Wochen. Ich … ich wusste es nicht. Ich dachte, es wäre Stress, aber …“ Sie atmete zitternd. „Ich hatte Schmerzen. Bin ins Krankenhaus gefahren. Sie haben Tests gemacht. Und …“

„Ist alles okay?“ Marcus' Stimme klang fremd in seinen eigenen Ohren. „Mit dir? Mit dem Baby?“

„Ja. Alles okay. Aber Marcus …“ Sie weinte jetzt. „Ich habe Angst. Ich weiß nicht, ob wir das schaffen. Du und ich. Wir sind so … kaputt gerade.“

Marcus stand auf, begann sich anzuziehen. „Wo bist du? Welches Krankenhaus?“

„Charité. Aber du musst nicht—“

„Ich komme. Sofort.“

Er legte auf, griff nach seiner Jacke.

Sein Handy vibrierte. Eine Nachricht von M2.

„Ich weiß es. Ich habe es gespürt. In dem Moment, als sie es gesagt hat.“

„Was machen wir?“ tippte er.

Die Antwort kam sofort:

„Wir hören auf zu kämpfen. Jetzt. Sofort. Es gibt ein Baby. Nichts anderes ist wichtig.“

Marcus las die Worte noch einmal.

Dann schrieb er: „Einverstanden.“

„Geh zu ihr. Sei da. Ich kümmere mich um den Rest.“

„Was ist der Rest?“

„Alles, was ich kaputt gemacht habe. Ich repariere es. So gut ich kann.“

Marcus stand in der Tür, Jacke halb angezogen, und fühlte etwas in seiner Brust aufbrechen.

„Danke“, tippte er.

„Geh. Sie braucht dich.“

Marcus rannte.

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