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Die Wehen begannen um 4:23 Uhr morgens.
Marcus wachte auf von Sarahs Hand auf seiner Schulter. Fest. Zu fest.
„Marcus.“ Ihre Stimme war ruhig, aber angespannt. „Es ist soweit.“
Er war sofort hellwach. Setzte sich auf, sah sie an. „Bist du sicher?“
„Ja. Die Wehen kommen alle zehn Minuten. Seit einer Stunde.“
„Warum hast du mich nicht früher geweckt?“
„Ich wollte sicher sein.“ Sie lächelte, aber es war ein angespanntes Lächeln. „Und ich wollte dich schlafen lassen. Du wirst Energie brauchen.“
Marcus stand auf, zog sich hastig an. Seine Hände zitterten. Die Tasche. Wo war die Tasche? Sie hatten sie vor Wochen gepackt, aber jetzt, in diesem Moment, konnte er sich nicht erinnern, wo sie stand.
„Flur“, sagte Sarah. „Neben der Tür.“
„Richtig.“ Er fand sie, kam zurück. „Okay. Krankenhaus. Wir fahren ins Krankenhaus.“
„Marcus.“ Sarah hielt ihn auf. „Atme.“
Er atmete. Ein. Aus. Versuchte, sich zu beruhigen.
Sarah stand auf, langsam, eine Hand auf ihrem Bauch. „Ich bin okay. Wir haben Zeit.“
Aber Marcus' Herz raste. Das war es. Emma kam. Jetzt. Heute.
Er griff nach seinem Handy, tippte schnell:
„Es geht los. Wehen. Wir fahren ins Krankenhaus.“
Er wartete nicht auf eine Antwort. Steckte das Handy ein, nahm Sarahs Arm.
Sie gingen langsam die Treppen hinunter. Vier Stockwerke. Sarah musste zweimal anhalten, atmete durch eine Wehe.
„Tut es sehr weh?“ fragte Marcus hilflos.
„Es geht.“ Sie lächelte. „Ich habe Schlimmeres überlebt.“
„Was denn?“
„Dich kennenlernen.“
Marcus lachte, trotz allem. „Fair.“
Sie nahmen ein Taxi. Der Fahrer sah Sarah im Rückspiegel, wurde blass. „Bitte nicht im Auto“, murmelte er.
„Wir versuchen unser Bestes“, sagte Sarah trocken.
Die Fahrt zum Krankenhaus dauerte zwölf Minuten. Marcus zählte jede Sekunde. Sarah hatte zwei weitere Wehen, atmete durch beide, ihre Hand zerquetschte seine.
Im Krankenhaus wurden sie sofort aufgenommen. Eine Hebamme – Mitte vierzig, ruhige Augen, kompetente Hände – führte sie in einen Kreißsaal.
„Wie weit sind die Wehen?“ fragte sie.
„Alle sieben Minuten jetzt“, sagte Sarah.
„Gut. Wir haben Zeit.“ Die Hebamme – ihr Namensschild sagte „Petra“ – half Sarah auf das Bett. „Ich untersuche Sie kurz, okay?“
Sarah nickte.
Marcus stand daneben, fühlte sich nutzlos. Was sollte er tun? Was konnte er tun?
Sein Handy vibrierte. Er zog es heraus.
„Ich bin bei dir. Auch wenn ich nicht da bin. Ich bin bei dir.“
Marcus schloss die Augen. „Ich weiß.“
„Wie geht es ihr?“
„Gut. Stark. Sie ist unglaublich.“
„Ja. Das ist sie.“
„Ich wünschte, du könntest hier sein.“
„Ich auch. Aber du bist da. Das ist genug.“
War es das? Genug?
Marcus steckte das Handy weg, trat zu Sarah. Nahm ihre Hand.
„Alles okay?“ fragte sie.
„Ja. Alles okay.“
Petra richtete sich auf. „Sie sind bei fünf Zentimetern. Noch ein Weg zu gehen, aber Sie machen das großartig.“
„Wie lange noch?“ fragte Marcus.
„Schwer zu sagen. Vielleicht vier Stunden. Vielleicht acht. Jede Geburt ist anders.“
Acht Stunden. Marcus versuchte, sich das vorzustellen. Konnte es nicht.
Die nächsten Stunden verschwammen zu einem Nebel aus Wehen, Atmung, Warten.
Sarah ging durch den Raum, hielt sich an Marcus fest, atmete durch jede Wehe. Er zählte mit ihr. Ein. Zwei. Drei. Vier. Atme aus.
Petra kam und ging, überprüfte den Fortschritt. Sechs Zentimeter. Sieben.
„Du machst das großartig“, sagte Marcus immer wieder.
„Hör auf, das zu sagen“, keuchte Sarah. „Ich mache gar nichts. Mein Körper macht das.“
„Dann macht dein Körper das großartig.“
Sie lachte, kurz, dann kam die nächste Wehe.
Um 11 Uhr bat Sarah um eine PDA. Die Schmerzen wurden zu viel.
Der Anästhesist kam, setzte die Spritze. Nach zwanzig Minuten entspannte sich Sarahs Gesicht.
„Besser?“ fragte Marcus.
„Viel besser.“ Sie lehnte sich zurück. „Warum habe ich nicht früher danach gefragt?“
„Weil du tough bist.“
„Ich bin nicht tough. Ich bin erschöpft.“
Marcus küsste ihre Stirn. „Du bist beides.“
Sarah schloss die Augen. „Weck mich, wenn es soweit ist.“
„Versprochen.“
Marcus saß neben ihr, hielt ihre Hand. Petra überprüfte den Monitor, nickte zufrieden.
„Alles sieht gut aus. Das Baby hat einen starken Herzschlag.“
Marcus sah auf den Monitor. Die kleine Linie, die auf und ab ging. Emmas Herzschlag. Sein-nicht-sein Kind.
Nein. Sein Kind. Seins und M2s. Beider.
Er zog sein Handy heraus, schickte ein Update:
„PDA gesetzt. Sarah schläft. Sieben Zentimeter. Noch ein paar Stunden.“
„Wie fühlst du dich?“
„Ich habe Angst.“
„Ich auch.“
„Was, wenn ich es vermassle? Was, wenn ich kein guter Vater bin?“
Eine lange Pause. Dann:
„Vater hatte auch Angst. Erinnerst du dich? Als wir geboren wurden. Mutter hat erzählt, dass er im Kreißsaal fast ohnmächtig geworden ist.“
Marcus lächelte. „Wirklich?“
„Ja. Aber dann hat er uns gehalten, und er hat gesagt, es war der klarste Moment seines Lebens. Alles andere fiel weg. Nur wir und er.“
„Ich vermisse ihn.“
„Ich auch.“
„Ich wünschte, er könnte Emma kennenlernen.“
„Er wird. Durch uns. Wir erzählen ihr von ihm. Von seiner Uhr. Von seiner Gitarre. Von seiner Angst und seiner Freude.“
Marcus sah auf die Uhr an seinem Handgelenk. 14:37. Stehengeblieben seit achtzehn Jahren.
Aber vielleicht war das okay. Vielleicht musste Zeit nicht immer weitergehen. Vielleicht konnte sie manchmal einfach … sein.
Um 14:15 Uhr sagte Petra: „Es ist Zeit.“
Sarah war wach, alert, bereit. Zehn Zentimeter. Vollständig geöffnet.
„Beim nächsten Wehe pressen Sie, okay?“ sagte Petra.
Sarah nickte. Ihre Hand zerquetschte Marcus'.
Die Wehe kam. Sarah presste. Ihr Gesicht wurde rot, Adern traten an ihrem Hals hervor. Sie schrie, ein tiefer, uraler Laut.
„Gut!“ sagte Petra. „Sehr gut! Noch einmal!“
Wieder. Und wieder. Und wieder.
Marcus hielt ihre Hand. Oder sie hielt seine. Er wusste nicht mehr, wer wen hielt.
„Ich kann nicht mehr“, keuchte Sarah.
„Doch. Du kannst. Du bist fast da.“
„Ich kann nicht—“
„Noch einmal. Ein letztes Mal. Ich bin bei dir.“
Sarah presste. Ihr ganzer Körper spannte sich an, Gesicht verzerrt vor Anstrengung.
„Ich sehe den Kopf!“ rief Petra. „Noch einmal, Sarah!“
Sarah schrie. Laut. Primal. Ein Laut, den Marcus nie von ihr gehört hatte.
Marcus hielt ihre Hand, und sie zerquetschte seine Finger. Schmerzhaft. Aber er ließ nicht los.
„Fast da“, flüsterte er. „Fast da.“
Sarah presste. Ein letztes Mal. Mit allem, was sie hatte.
Und dann—
Sarah sah ihn an. Ihre Augen, weit, verängstigt, erschöpft.
Dann nickte sie.
Presste.
Schrie.
Und dann: Stille.
Eine Sekunde. Zwei Sekunden.
Marcus' Herz hörte auf zu schlagen.
Dann: Ein Schrei. Klein. Wütend. Lebendig.
„Sie ist da!“ Petra hob Emma hoch. „Ihre Tochter ist da!“
Marcus konnte nicht atmen. Konnte nicht denken. Konnte nur starren.
Das war Emma.
Winzig. Blutverkrustet. Ihre Haut rosa und faltig, Haare dunkel und nass. Ihre Augen geschlossen, Gesicht verzogen.
Nicht perfekt. Nicht wie in Filmen.
Sondern real. Lebendig. Hier.
Die schönste Sache, die er je gesehen hatte.
Petra legte Emma auf Sarahs Brust. Sarah weinte, lachte, hielt sie fest.
„Hallo“, flüsterte sie. „Hallo, Emma. Wir haben so lange auf dich gewartet.“
Emma öffnete die Augen. Winzig klein, dunkelblau, verwirrt. Sah ihre Mutter an.
Marcus betrachtete jedes Detail. Zehn Finger, zehn Zehen, ein kleiner Mund, der sich öffnete und schloss."
„Willst du sie halten?“ fragte Sarah.
Marcus nickte, stumm. Petra nahm Emma vorsichtig, legte sie in seine Arme.
Sie war so leicht. Kaum drei Kilo. Aber sie fühlte sich an wie die Welt.
Warm. Weich. Ihr Körper passte perfekt in seine Arme, als wäre sie dafür gemacht worden.
Sie roch nach … er wusste nicht wonach. Nach etwas Uraltem. Nach Leben selbst.
Ihre winzigen Finger. Ihre geschlossenen Augen. Der kleine Mund, der sich öffnete und schloss.
Emma sah zu ihm hoch. Ihre Augen fanden seine.
Und in diesem Moment fiel alles weg. Die Fragen. Die Zweifel. Die Angst.
Es gab nur sie. Emma. Seine Tochter.
Marcus dachte an M2. An den anderen Marcus, der nicht hier sein konnte. Der diesen Moment verpasste.
Aber er war hier. Irgendwie. In Marcus' Händen. In Marcus' Herz.
Sie waren beide Emmas Vater. Beide hier. Beide präsent.
„Hallo“, flüsterte er. Seine Stimme brach. „Ich bin dein Papa.“
Emma machte ein kleines Geräusch. Nicht ganz ein Schrei. Mehr wie eine Frage.
Marcus lächelte durch die Tränen. „Ja. Ich bin hier. Ich bin da.“
Er schloss die Augen. Versuchte, alles zu fühlen. Für sich. Für M2. Für beide.
„Ich bin hier“, flüsterte er. „Wir sind hier. Beide. Irgendwie.“
Emma rührte sich leicht, aber wachte nicht auf.
Marcus öffnete die Augen.
„Dein Papa liebt dich“, flüsterte er. „Beide deine Papas lieben dich. Auch wenn du das noch nicht verstehst. Auch wenn es kompliziert ist. Du bist geliebt.“
Emma schloss die Augen, kuschelte sich an seine Brust.
Marcus sah zu Sarah. Sie lächelte, erschöpft, glücklich.
„Sie mag dich“, sagte sie.
„Ich mag sie auch.“
„Bist du bereit? Vater zu sein?“
Marcus sah auf Emma. Auf ihre winzigen Finger, die sich um seinen Daumen schlossen.
„Nein“, sagte er ehrlich. „Aber ich mache es trotzdem.“
Sarah lachte. „Das ist alles, was man braucht.“
Später, als Sarah schlief und Emma in ihrem kleinen Krankenhaus-Bettchen lag, zog Marcus sein Handy heraus.
Er machte ein Foto. Emma, schlafend, friedlich.
Schickte es an M2.
„Emma. 3.240 Gramm. 51 cm. Gesund. Perfekt.“
Die Antwort kam nach Sekunden:
„Sie ist wunderschön.“
„Ja.“
„Danke. Dass du da warst. Dass du sie gehalten hast.“
„Ich wünschte, du hättest hier sein können.“
„Ich war da. Durch dich. Ich habe alles gespürt. Die Angst. Die Freude. Die Liebe.“
Marcus sah auf Emma. „Was jetzt?“
„Jetzt lebst du. Du bist ihr Vater. Du ziehst sie groß. Du bist präsent.“
„Und du?“
„Ich lebe auch. Hier. In Helix-1. Mit deiner Sarah. Wir haben heute geredet. Wirklich geredet. Sie will es nochmal versuchen. Mit uns.“
Marcus lächelte. „Das ist gut.“
„Ja. Es ist gut.“
„Werden wir jemals wieder springen können?“
Eine lange Pause.
„Ich weiß nicht. Das Flackern ist fast weg. Aber vielleicht … vielleicht ist das okay. Vielleicht brauchen wir es nicht mehr.“
„Warum nicht?“
„Weil wir uns entschieden haben. Wir haben aufgehört wegzulaufen. Wir sind da, wo wir sein sollen.“
Marcus sah auf Emma. Auf Sarah. Auf das Leben, das vor ihm lag.
„Ja“, schrieb er. „Wir sind, wo wir sein sollen.“
„Pass auf sie auf. Auf beide.“
„Versprochen.“
„Und Marcus?“
„Ja?“
„Danke. Für alles. Für das Leben, das du mir gegeben hast. Für die Tochter, die ich nie halten werde, aber die ich trotzdem liebe.“
Marcus' Augen brannten. „Sie ist auch deine. Immer.“
„Ich weiß.“
Das war die letzte Nachricht.
Marcus legte das Handy weg, stand auf, trat zu Emmas Bettchen.
Sie schlief, friedlich, unschuldig. Wusste nichts von parallelen Welten, von zwei Vätern, von der Komplexität ihrer Existenz.
Und das war gut so.
Sie würde ein normales Leben haben. Ein gutes Leben. Mit einer Mutter, die sie liebte, und einem Vater, der lernte, präsent zu sein.
Marcus streckte die Hand aus, berührte vorsichtig Emmas Wange. So weich. So warm.
„Willkommen in der Welt, Emma“, flüsterte er. „Wir haben auf dich gewartet.“
Emma rührte sich leicht, machte ein kleines Geräusch. Nicht ganz ein Schrei. Aber nah dran.
Marcus lächelte.
Dann ging er zurück zu Sarah, legte sich neben sie auf das schmale Krankenhausbett, und zum ersten Mal seit Wochen schlief er tief und traumlos.
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