Wo sind die Staatsmänner?

„Landschaft mit dem Sturz des Ikarus“ (Pieter Bruegel der Ältere, ca. 1560)
Und warum das die falsche Frage ist.
Es ist verführerisch, sich an eine Zeit zu erinnern, in der Politik noch funktionierte. Als Willy Brandt wegen einer Spionage-Affäre in seinem Umfeld zurücktrat – ein Vorfall, der heute kaum eine Randnotiz wäre. Als Politiker noch Konsequenzen trugen, Integrität noch zählte und es noch Staatsmänner gab.
Die Sehnsucht ist real und verständlich. Und sie ist eine Falle. Denn die Frage „Wo sind die Staatsmänner?“ setzt voraus, dass es sie je gab; dass es eine goldene Ära gab, in der große Männer (und es waren fast ausschließlich Männer) mit Weisheit und Weitblick regierten. Dass das Problem der Gegenwart ein Mangel an solchen Figuren ist.
Diese Frage führt direkt in die Arme genau jener autoritären Prophet:innen, vor denen wir uns hüten müssen.
Die Staatsmänner, die es nie gab
Brandt, Adenauer, Churchill, de Gaulle – die Ikonen der Nachkriegsordnung. Waren sie wirklich so anders als die Politiker:innen von heute?
Churchill war ein brillanter Kriegsredner und ein katastrophaler Friedenspolitiker. Seine Rolle in der Hungersnot in Bengalen von 1943, die Millionen Tote forderte, wird heute als Verbrechen gegen die Menschlichkeit diskutiert. De Gaulle war ein Meister der Selbstinszenierung, der Frankreich in eine Verfassungskrise stürzte, um seine eigene Macht zu zementieren. Adenauer regierte mit eiserner Hand, nutzte Geheimdienste zum persönlichen Vorteil und duldete keinen Widerspruch in seiner Partei.
Der Unterschied zu heute liegt weniger in der moralischen Qualität dieser Männer als vielmehr in den Umständen. Der Kontext war anders: Es gab weniger Transparenz, keine 24/7-Nachrichtenzyklen, keine sozialen Medien, kaum Leaks. Die Öffentlichkeit wusste weniger über das, was hinter verschlossenen Türen geschah. Gleichzeitig waren die Narrative stabiler. Es gab noch „Götter“ im Sinne von Ideologien, Nationen und Traditionen, die die Autorität dieser Männer stützten. Wir konnten an den „weisen Führer“ glauben, weil das gesamte kulturelle Betriebssystem diese Figur vorsah. Schließlich waren die Erwartungen andere: Wir erwarteten Führung, nicht Perfektion; Entscheidungen, nicht Konsens.
Die Rolle des „Staatsmanns“ war klar definiert, und solange jemand diese Rolle halbwegs überzeugend spielte, funktionierte das System. Sie waren Prophet:innen, die noch wie Götter aussehen konnten.
Die strukturelle Unmöglichkeit des Staatsmanns
Es gibt allerdings einen tieferen Grund, warum die Sehnsucht nach dem „großen Staatsmann“ in die Irre führt: Die Welt, in der wir leben, erlaubt diese Figur nicht mehr.
Die Komplexität moderner Governance – die Verschränkung von Wirtschaft, Technologie, Ökologie, globalen Lieferketten, Finanzmärkten und Informationsflüssen – übersteigt die kognitive Kapazität jedes einzelnen Menschen, egal wie brillant. Kein:e Einzelne:r kann mehr den „Überblick“ haben oder die „richtigen Entscheidungen“ treffen, weil es keine einzelne „richtige“ Entscheidung mehr gibt. Es gibt nur noch Abwägungen in einem Feld konkurrierender Werte und unvorhersehbarer Konsequenzen.
Jeder Versuch, die Figur des „großen Staatsmanns“ zu erschaffen oder zu sein, endet daher zwangsläufig in einer von zwei Sackgassen: entweder im Autoritarismus, indem die Komplexität ignoriert wird, Härte vorgetäuscht und als „starker Mann“ auf Kosten von Freiheit und Selbstkorrektur „Dinge erledigt“ werden; oder in der Enttäuschung, indem versucht wird, der Komplexität gerecht zu werden, Konsens sucht und dafür als schwach, zögerlich und führungslos wahrgenommen wird.
Die Sehnsucht nach dem Staatsmann ist die Sehnsucht nach einer einfacheren Welt. Aber diese Welt existiert nicht mehr, und sie wird nicht zurückkommen.
Die autoritäre Versuchung
Hier setzt die Versuchung an. Wenn westliche Demokratien in endlosen Debatten, Polarisierung und Handlungsunfähigkeit versinken, wenn jede Entscheidung ein Kompromiss ist, jede Reform verwässert, jeder Fortschritt blockiert, dann wirkt jemand, der einfach entscheidet, wie eine Erlösung.
Die Fähigkeit, Infrastruktur zu bauen, Strategien umzusetzen, eine kohärente Vision zu artikulieren – das sind keine trivialen Qualitäten. Und wenn wir sie lange genug vermisst haben, fangen wir an, einen Preis dafür zahlen zu wollen. Dieser Preis ist immer derselbe: Freiheit.
Diese Bewunderung für autoritäre Effizienz ist kein rationaler Akt, sondern eine strukturelle Konsequenz. Sie entspringt der Erschöpfung mit einer Welt, in der alles verhandelbar ist, in der jede Wahrheit eine Perspektive und jede Entscheidung angefochten werden kann.
Und doch wissen wir, dass autoritäre Systeme Freiheit vernichten, Dissens unterdrücken und auf Überwachung, Kontrolle und letztlich Gewalt basieren.
Die Verdrängung besteht darin, dass wir beides gleichzeitig denken: „Das ist schrecklich“ und „Vielleicht ist es den Preis wert, wenn die Züge pünktlich fahren.“
Das ist die ultimative Kapitulation. Sie geschieht nicht vor einem Gott, sondern vor Prophet:innen, die vorgeben, einer zu sein. Und sie kommt nicht aus Überzeugung, sondern aus Erschöpfung.
„Wo sind die Staatsmänner?“ ist daher die falsche Frage. Sie setzt voraus, dass die Lösung in Personen liegt, dass wir nur die richtigen Führer:innen finden müssen. Die richtige Frage lautet: „Wie bauen wir Systeme, die funktionieren – unabhängig davon, wer sie gerade bedient?“
Das ist nicht attraktiv, verkauft keine Bücher und inspiriert keine Massen. Aber es funktioniert, und es funktioniert bereits, an Orten, von denen wir es nicht erwarten. In Formen, die wir nicht erkennen, weil wir nach Prophet:innen suchen statt nach Protokollen.
Die Systeme, die überleben
Botswana: die stille Revolution
Am 30. Oktober 2024 geschah etwas Bemerkenswertes: Nach 58 Jahren ununterbrochener Herrschaft der Botswana Democratic Party (BDP), länger als die meisten afrikanischen Staaten überhaupt existieren, wählten die Bürger:innen Botswanas die Regierung ab. Die Opposition gewann 36 von 61 Sitzen.
Präsident Mokgweetsi Masisi, dessen Partei noch nie eine Wahl verloren hatte, akzeptierte die Niederlage sofort. „Ich wollte Präsident bleiben“, sagte er, „aber ich werde respektvoll zur Seite treten.“ Auf einem Kontinent, auf dem Amtsinhaber selten Wahlen verlieren und noch seltener freiwillig gehen, war das ein Erdbeben. Aber es war kein Zufall.
Botswanas Demokratie basiert nicht auf großen Männern, sie basiert auf dem Kgotla-System – traditionellen Versammlungen, die seit Jahrtausenden existieren; öffentliche Foren, in denen Bürger:innen monatlich zusammenkommen, um lokale Angelegenheiten zu diskutieren und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen.
Das Prinzip: „Ein Häuptling ist ein Häuptling durch die Nation“, nicht über sie, sondern mit ihr. Diese Struktur überlebte die Kolonialzeit (weil Großbritannien Bechuanaland mit „Nichteinmischung“ verwaltete) und wurde nach der Unabhängigkeit 1966 in die moderne Demokratie integriert. Das Ergebnis: Institutionen, die stärker sind als Personen. Eine demokratische Kultur, die so tief verwurzelt ist, dass selbst 58 Jahre Einparteienherrschaft sie nicht auslöschen konnten.
Als die BDP unter Ian Khama (2008-2018) zunehmend autoritäre Züge annahm – durch Einschüchterung von Richtern, Angriffe auf Journalist:innen, Bereicherung durch Staatsaufträge – reagierte die Gesellschaft. Nicht mit Revolution; mit Geduld. Mit dem Vertrauen, dass das System funktionieren würde, wenn die Zeit kam. Und es funktionierte.
Taiwan: die Architekten des Konsenses
2014 stürmten Student:innen das taiwanesische Parlament. Sie protestierten gegen ein undurchsichtiges Handelsabkommen mit Beijing. Aber statt Parolen zu skandieren, streamten sie ihre eigene parlamentarische Debatte – live, transparent, für alle sichtbar.
Audrey Tang, damals Programmiererin und Aktivistin, installierte die Ethernet-Kabel. Heute ist Tang Taiwans Cyber-Botschafterin und war die erste Digital-Ministerin des Landes.
Was Tang und die g0v-Bewegung entwickelt haben, ist keine Führung im traditionellen Sinne. Es ist Facilitation; die Schaffung von Räumen, in denen kollektive Intelligenz entstehen kann.
Das Werkzeug: Polis, eine Plattform ohne Reply-Button. Aussagen können zugestimmt oder widersprochen werden, aber nicht angegriffen. Das Ergebnis: Statt Polarisierung sichtbar zu machen, macht es Konsens sichtbar – die Punkte, denen Menschen über ideologische Grenzen hinweg zustimmen.
2015 tobte in Taiwan die Uber-Debatte. Ist es Sharing Economy oder Ausbeutung? Die Gesellschaft war gespalten. Tang lud alle Seiten ein – Taxifahrer:innen, Uber-Fahrer:innen, Passagier:innen, Politiker:innen. Drei Wochen Polis-Diskussion. Am Ende: Ein Konsens, den niemand für möglich gehalten hatte. Heute operiert Uber legal in Taiwan als registrierte Taxiflotte. Traditionelle Taxis profitieren von denselben Technologien.
Das Prinzip: Radikale Transparenz. Alle Meetings sind aufgezeichnet, transkribiert, öffentlich. Jede:r Bürger:in kann mit 5.000 Unterschriften ein Thema auf die Agenda setzen, das die Regierung beantworten muss.
Das Ergebnis: Taiwans Vertrauen in die Regierung stieg von 9 % (2014) auf über 60 %. Das Land ist laut Democracy Index die demokratischste Nation Asiens. Und laut Human Freedom Index die freieste.
Irland: die Macht der Zufallsbürger:innen
2016 stand Irland vor einem unlösbaren Problem: die Abtreibungsfrage. Seit 1983 verbot die Verfassung Abtreibung praktisch vollständig. Das Land war tief gespalten – zwischen katholischer Tradition und säkularer Moderne, zwischen Stadt und Land, zwischen Generationen. Kein:e Politiker:in wollte diese Frage anfassen. Zu toxisch, zu polarisierend, zu karrieregefährdend.
Die Lösung: Eine Citizens' Assembly. 99 zufällig ausgewählte Bürger:innen; keine Expert:innen, keine Politiker:innen. Nur Menschen, die Irland repräsentieren – nach Geschlecht, Alter, Region, sozialer Klasse.
Fünf Wochenenden, über sechs Monate verteilt. Sie hörten Expert:innen und Betroffene. Sie diskutierten in kleinen Gruppen und reflektierten allein. Dann stimmten sie ab.
Das Ergebnis überraschte alle: 87 % empfahlen, das Abtreibungsverbot nicht beizubehalten. 64 % unterstützten Abtreibung ohne Einschränkung bis zu einer bestimmten Schwangerschaftswoche.
Die Empfehlung ging an ein parlamentarisches Komitee. Das Komitee bestätigte die Richtung, wenn auch etwas verwässert. Die Regierung setzte ein Referendum an.
Am 25. Mai 2018 stimmten 66,4 % der Iren für die Aufhebung des Verbots. Die höchste Wahlbeteiligung in der Geschichte irischer Referenden. Alle vier Regionen stimmten zu – von Dublin (75,5 %) bis zu den ländlichen Gebieten (57,5 %).
Was war passiert? Die Citizens' Assembly hatte etwas geleistet, was keine:r Politiker:in gelungen wäre: Sie hatte den Politiker:innen gezeigt, dass die irische Gesellschaft sich verändert hatte. Sie hatte einen Raum geschaffen, in dem Menschen ihre Meinung ändern durften, ohne Gesichtsverlust.
Und sie hatte den Politiker:innen politische Deckung gegeben. „Wir folgen dem Willen der Bürger:innen“ ist eine viel sicherere Position als „Ich habe meine Meinung geändert.“
Das Prinzip: Sortition (Losverfahren) statt Selektion. Nicht die Lautesten, nicht die Reichsten, nicht die Charismatischsten. Einfach Menschen, die zufällig ausgewählt wurden und dadurch die Gesellschaft repräsentieren.
Island: das Scheitern als Lehrstück
Nicht alle Experimente gelingen. Und gerade das Scheitern lehrt uns, was funktioniert und was nicht.
Nach dem Banken-Crash von 2008 wollten die Menschen in Island eine neue Verfassung – crowdgesourced, transparent, von den Menschen für die Menschen. 950 zufällig ausgewählte Bürger:innen definierten die Grundwerte. 25 gewählte Bürger:innen (keine Politiker:innen) schrieben den Entwurf. Die Öffentlichkeit konnte über Facebook, Twitter, YouTube mitdiskutieren. 323 formale Vorschläge. 3.600 Kommentare. Fast 10 % der öffentlichen Vorschläge fanden Eingang in den Text.
Der Entwurf wurde einstimmig verabschiedet. Ein Referendum im Oktober 2012 bestätigte ihn mit 67 %. Alles schien perfekt. Dann blockierte das Parlament die Ratifizierung. Filibuster. Verzögerungstaktiken. Schließlich: Stillstand. Die neue Verfassung wurde nie Gesetz.
Der Prozess hatte die Politiker:innen ausgeschlossen, bewusst, aus Misstrauen nach dem Crash. Nur: letztlich wurden genau diese Politiker:innen gebraucht, um das Ergebnis zu ratifizieren. Und sie hatten keinen Grund, ein Dokument zu unterstützen, an dem sie nicht beteiligt waren – das ihre Macht beschneiden und ihre Wiederwahl gefährden würde.
Die Lektion: Partizipation ohne Integration scheitert. Wir können die Eliten nicht umgehen, wenn sie am Ende die Macht haben, das Ergebnis zu blockieren. Wir müssen sie in den Prozess einbinden – nicht als Entscheider:innen, aber als Stakeholder.
Islands Experiment war nicht vergebens. Es zeigte, dass echte öffentliche Beteiligung möglich ist, dass Menschen konstruktiv an komplexen Fragen arbeiten können. Aber es zeigte auch: Prozessdesign ist alles. Und politische Realität kann die schönste Deliberation zunichtemachen.
Die progressive Synthese: Systeme statt Staatsmänner
Was lernen wir aus diesen Beispielen? Was ist die Alternative zur Sehnsucht nach dem „großen Führer“? Die Antwort ist keine einzelne Lösung; sie ist ein Portfolio von Ansätzen, die alle einem Prinzip folgen: Autorität in Prozesse einbetten, nicht in Personen.
Ziel ist der Wandel von Führung zu Facilitation. Die Rolle von Regierung ist nicht, Antworten zu haben, sondern Räume zu schaffen, in denen Antworten entstehen können. Taiwan zeigt, wie das aussieht: Die Regierung stellt die Infrastruktur (Polis, vTaiwan, Join-Plattform), die Bürger:innen setzen die Agenda, und die Lösungen entstehen im Dialog aller Stakeholder. Das ist keine „Führungsschwäche“, sondern eine für komplexe Systeme geeignete Art der Führung. Audrey Tang nennt es conservative anarchism: Traditionen bewahren, aber keine Befehle geben oder empfangen, nur Gespräche ermöglichen.
Es braucht eine verteilte Autorität statt zentralisierter Prophet:innen. Irland zeigt, wie Sortition funktioniert: Zufällig ausgewählte Bürger:innen deliberieren über Fragen, die für Politiker:innen zu toxisch sind. Nicht weil Bürger:innen „klüger“ wären, sondern weil sie nicht wiedergewählt werden müssen. Sie können sich eine Meinung bilden, ohne Angst vor Konsequenzen. Dieses Vertrauen in Prozesse statt in Personen wurde bereits in Belgien (G1000) oder Frankreich (Convention Citoyenne pour le Climat) erprobt.
Das Fundament bildet institutionelle Stärke. Botswana zeigt: Demokratie überlebt nicht durch charismatische Führer:innen, sondern durch Strukturen, die tiefer reichen als jede Regierung. Das Kgotla-System ist jahrtausendealt und wurde bewusst in die moderne Demokratie integriert, was zu einer tief verwurzelten demokratischen Kultur führt. Ähnliches gilt für Costa Rica, das seit 1949 keine Armee mehr hat – eine konstitutionelle Entscheidung, keine persönliche Heldentat.
Gleichzeitig müssen wir die Effizienz-Falle erkennen. Orte wie Singapur oder Ruanda zeigen beeindruckende autoritäre Effizienz, aber zu welchem Preis? Eingeschränkte Pressefreiheit, kontrollierte Zivilgesellschaft. Die Beispiele aus Botswana, Taiwan und Irland beweisen, dass die Dichotomie „Freiheit oder Funktionalität“ falsch ist. Systeme können sowohl funktional als auch frei sein. Sie brauchen aber Zeit, Geduld und das Vertrauen, dass Prozesse wichtiger sind als Personen.
Das erfordert radikale Transparenz und eine neue Fehlerkultur. Statt „Konsequenzen einzufordern“, was eine klare moralische Ordnung voraussetzt, brauchen wir öffentliches Lernen statt öffentlicher Hinrichtung. In Neuseeland modellierte Jacinda Ardern „Ich weiß es nicht“ als legitime, ehrliche Antwort. In Taiwan dient Transparenz nicht der Bestrafung, sondern dem Lernen („Humour over rumour“). Verletzlichkeit wird zur Voraussetzung für Anpassung.
Zuletzt ist die zeitliche Begrenzung ein Feature. Das Problem ist vielleicht, dass wir „Staatsmänner fürs Leben“ erwarten. Rotation als Prinzip verhindert, dass Institutionen mit Personen verschmelzen. Das erfordert ein institutionelles Gedächtnis in den Strukturen, nicht in den Personen – durch Dokumentation, Transparenz und Übergabeprotokolle.
Die unbequeme Wahrheit
Aber hier müssen wir ehrlich sein. All diese Beispiele – Taiwan, Irland, Botswana – sind Ausnahmen. Sie funktionieren unter spezifischen Bedingungen: kleine bis mittlere Größe, relative Homogenität, hohe Bildung, Krisenmomente als Katalysator. Skaliert das auf 770 Millionen (Europa)? Und oft waren es zeitlich begrenzte Projekte.
Und doch: Diese Einschränkungen sind kein Grund zur Resignation. Sie sind Hinweise darauf, unter welchen Bedingungen neue Formen funktionieren – und wie wir diese Bedingungen schaffen können.
Die Antwort auf „Wo sind die Staatsmänner?“ ist nicht: „Wir brauchen keine Führung.“ Sondern: Wir brauchen eine andere Art von Führung – eine, die sich selbst überflüssig zu machen versucht.
Das bedeutet die bewusste Oszillation zwischen scheinbaren Gegensätzen: Führung und Facilitation, Entscheidung und Deliberation, Effizienz und Freiheit, Autorität und Rechenschaft. Es ist nicht „entweder/oder“, sondern „sowohl/als auch“ – aber mit klaren Regeln darüber, wann welches Prinzip Vorrang hat.
Die Antwort, die niemand hören will
Die Sehnsucht nach Staatsmännern ist die Sehnsucht nach Einfachheit, nach jemandem, der „einfach entscheidet“, nach der Illusion von Kontrolle in einer unkontrollierbaren Welt.
Nur ist die Welt nicht einfach und sie wird nicht einfacher werden. Die progressive Alternative ist nicht attraktiv: keine charismatischen Führer:innen, sondern langweilige Prozesse; keine inspirierenden Visionen, sondern funktionierende Protokolle; keine großen Reden, sondern transparente Meetings.
Das verkauft keine Bücher, bekommt keine Retweets und baut keine Personenkulte. Aber es funktioniert. Und es überlebt die Person, die es gebaut hat.
Vielleicht ist die ultimative post-prophetische Weisheit diese: Die Sehnsucht nach Inspiration ist selbst das Problem. Wir wollen bewegt werden, glauben, jemanden, der sagt: „Folgt mir, ich kenne den Weg.“
Aber in einer Welt, die sich der Berechnung entzieht, in der Emergenz nicht vorhersagbar ist, in der jede „Lösung“ neue Probleme schafft – in dieser Welt ist der gefährlichste Mensch der, der behauptet, den Weg zu kennen.
Die Staatsmänner, nach denen wir uns sehnen, würden in der heutigen Welt scheitern. Nicht weil sie schlechter wären, sondern weil die Welt komplexer ist.
Die Systeme, die wir brauchen, sind nicht inspirierend, sie sind resilient. Sie sind nicht charismatisch, sie sind adaptiv. Sie versprechen keine Transformation, sie ermöglichen kontinuierliche Anpassung.
Das ist die Antwort, die niemand hören will. Aber es ist die einzige, die funktioniert.
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