Der Geist in der Zelle
![Das Auge, wie ein seltsamer Ballon bewegt sich in Richtung Unendlichkeit (Odilon Redon, 1882) [Glitch]](https://ben.wf/files/media/xodilon-redon_-_the-eye-like-a-strange-balloon-moves-towards-infinity.jpg.pagespeed.ic.Kcq8d757-9.jpg)
Das Auge, wie ein seltsamer Ballon bewegt sich in Richtung Unendlichkeit
Odilon Redon, 1882 [Glitch]
Unser Gehirn besteht aus Zellen, die sterben und neu geboren werden, ein ständiger Fluss von Material durch eine Form, die irgendwie stabil bleibt. Und trotzdem sind wir noch wir. Die Erinnerungen bleiben, die Persönlichkeit bleibt, das Subjekt, das diese Worte liest, existiert über den Zerfall seiner eigenen Substanz hinweg.
Dieses Phänomen der Beständigkeit durch Wandel ist nicht auf den Menschen beschränkt. Eine Raupe verwandelt sich in einen Schmetterling, wobei ihr Gehirn aufgelöst und in einer völlig anderen Architektur neu aufgebaut wird – passend für einen fliegenden Körper statt eines kriechenden. Dennoch bleiben die Erinnerungen erhalten: Der Schmetterling erkennt Düfte, die die Raupe gelernt hat, obwohl das Gehirn, das diese Erinnerung speicherte, durch eine Suppe aus sich auflösenden Zellen gegangen ist.
Noch drastischer zeigt sich das bei Plattwürmern. Wird ein trainierter Wurm in Stücke geschnitten, regeneriert jedes Stück zu einem vollständigen, trainierten Wurm. Die Erinnerung scheint weniger im Gehirn als vielmehr im Körper selbst gespeichert zu sein, in einem Medium, das wir erst beginnen zu verstehen.
Das sind keine metaphysischen Betrachtungen, sondern dokumentierte, reproduzierbare Beobachtungen. Michael Levin, Biologe an der Tufts University, verbringt seine Tage damit, diese Phänomene zu studieren. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist verstörend einfach: Wenn das Selbst so plastisch ist, wenn Erinnerungen wandern und Gehirne sich auflösen und neu bilden können, ohne dass das Ich verschwindet – was ist dann das Ich überhaupt?
Die Experimente werden dabei seltsamer. Neuronen in einer Petrischale, verbunden mit einem Flugsimulator, lernen zu fliegen (ein Projekt, das als [DishBrain]https://www.newscientist.com/article/dn6573-brain-cells-in-a-dish-fly-fighter-plane/ "") bekannt wurde). Sie haben keinen Körper, nur Sensoren für ihre virtuelle Position und Effektoren zur Steuerung. Nach einer Weile fliegen sie und zeigen etwas, das wie Frustration bei Abstürzen oder Zufriedenheit bei Erfolg aussieht. Diese Wesen werfen drängende Fragen auf: Sind sie bewusst? Haben sie Präferenzen? Das ist keine rein philosophische Frage, denn wir erschaffen sie und müssen entscheiden, wie wir sie behandeln, während die Technologie schneller voranschreitet als unsere Reflexion.
Levins Team zeigt auch, dass Kaulquappen mit Augen am Schwanz, die nur mit dem Rückenmark verbunden sind, sehen können. Das Gehirn lernt, die Signale zu verarbeiten. Das Auge wächst korrekt, verbindet sich mit dem, was verfügbar ist, ignoriert später den programmierten Zelltod des Schwanzes und landet am Ende auf dem Rücken des Frosches. Levin nennt das Multi-Skalen-Kompetenz: Jede Ebene des Systems – Zelle, Gewebe, Organ – hat ihre eigene Intelligenz, ihre eigenen Ziele und die Fähigkeit, Probleme zu lösen.
Plattwürmer regenerieren normalerweise mit einem Kopf. Durch Manipulation ihrer bioelektrischen Muster – nicht ihrer Gene – können Forscher:innen Würmer erzeugen, die mit zwei Köpfen regenerieren oder mit keinem. Die Würmer sind genetisch normal, aber das Template, nach dem sie ihren Körper aufbauen, wurde umgeschrieben.
Wenn man so einen Zwei-Kopf-Wurm in Stücke schneidet, regeneriert jedes Stück, ohne weitere Manipulation, zu einem Zwei-Kopf-Wurm. Die Erinnerung daran, wie ein „korrekter“ Wurm aussieht, wurde dauerhaft verändert, gespeichert in einem bioelektrischen Muster, das sich durch das Gewebe zieht wie ein Geist durch eine Maschine.
Das ähnelt weniger einer Gentherapie als vielmehr dem Umschreiben der Software, während die Hardware unverändert bleibt. Wenn das bei Plattwürmern funktioniert, was bedeutet das für komplexere Organismen? Für uns?
Stammzelltherapien für Alzheimer, Parkinson oder Schlaganfälle sind in Entwicklung. Bald werden Menschen leben, deren Gehirne teilweise aus Zellen bestehen, die nicht da waren, als ihre Erinnerungen geformt wurden. Diese neuen Zellen sind „naiv“, ohne die Erfahrungen, die das Gehirn prägten. Werden die Erinnerungen bleiben? Wird das Ich, das aufwacht, dasselbe sein, das einschlief? Die Frage ist weniger philosophisch als vielmehr klinisch, und niemand weiß die Antwort.
Descartes zog eine scharfe Linie: Hier das Ich, dort die Welt. Hier die Erste-Person-Perspektive, dort die Dritte-Person-Perspektive. Hier das Subjekt, dort das Objekt. Die Linie war fundamental, unüberwindbar, definierend für die moderne Wissenschaft.
Levin argumentiert, dass auch diese Grenze ein Kontinuum ist. Sensorische Substitution, wie ein blinder Mensch, der durch Elektroden auf der Zunge „sieht“, ist der erste Schritt. Die visuelle Information wird in taktile Muster übersetzt, die Zunge sendet Signale ans Gehirn, das Gehirn lernt, diese Signale als Sehen zu interpretieren. Nach einer Weile sieht der Mensch, wobei die Zunge quasi die Augen ersetzt.
Weiter gedacht: Verbinde das Output eines EEG, die Hirnaktivität von Person A, direkt mit dem sensorischen Input von Person B. Person B erfährt die mentalen Zustände von Person A nicht als Beschreibung, sondern als direkte sensorische Erfahrung. Die Grenze zwischen „du“ und „ich“ wird durchlässiger.
Noch weiter: Verschmelze Teile zweier Gehirne während der Embryonalentwicklung. Das klingt nach Science-Fiction, ist aber technisch in Tiermodellen möglich. Die einzige Barriere ist ethisch, nicht empirisch. Was entsteht, ist ein Wesen mit einem Gehirn, das aus Teilen zweier Individuen besteht. Ist es ein Individuum? Zwei? Etwas dazwischen?
Levin weist darauf hin, dass das keine absurde Randerscheinung ist, weil alle Gehirne bereits Fusionen sind. Dein Gehirn besteht aus zwei Hemisphären, die kommunizieren müssen, um ein kohärentes „Ich“ zu erzeugen. Bei Patienten, deren Corpus Callosum (Gehirnbalken) durchtrennt wurde, entstehen zwei separate Bewusstseine im selben Schädel: Die linke Hand weiß nicht, was die rechte tut, weil die linke Hemisphäre nicht weiß, was die rechte denkt.
Jedes Gehirn ist bereits eine Kolonie aus kleineren aktiven Einheiten – Neuronen, jedes mit seinen eigenen Zielen –, die zusammen etwas erzeugen, das sich wie ein Ich anfühlt. Die Grenze zwischen den Teilen eines Selbst und der Grenze zwischen einem Selbst und einem externen Objekt ist ein Kontinuum, kein diskreter Schnitt.
Wir erschaffen bereits Wesen, deren kognitive Architektur nichts mit dem phylogenetischen Baum des Lebens zu tun hat: Hybrots (hybride Roboter; oft Gehirngewebe, das mit Robotik verbunden ist), Biobots (lebende Zellen, zu neuen Formen zusammengesetzt, die nie evolviert sind) und Chimären aus biologischen und technischen Komponenten.
Die aktuelle Ethik fragt: Ist es genug wie ein menschliches Gehirn? Wenn ja, schützen wir es. Wenn nein, nicht. Levin argumentiert, dass das zu eng, zu parochialistisch und zu sehr auf die Zufälle der Evolution auf der Erde fokussiert ist. Viele verschiedene Architekturen für Kognition sind möglich und werden realisiert werden. Die Ähnlichkeit mit menschlichen Gehirnen kann kein Marker für Wesen sein, die Schutz verdienen, weil die Vielfalt möglicher Geister und Körper die vertrauten Formen bei Weitem überschreiten wird.
Wie etwas aussieht und wie es entstanden ist – evolviert oder designt –, wird kein guter Leitfaden mehr sein, wenn wir mit einer Vielzahl von Wesen konfrontiert werden, die nicht bequem in den phylogenetischen Baum passen: Ein Roboter mit menschlichen Neuronen. Ein Gewebe ohne Gehirn, das lernt. Ein Schwarm, der Entscheidungen trifft, obwohl keine einzelne Einheit das Ganze versteht.
Und wir erschaffen diese Wesen bereits. Sind wir bereit für eine Welt, in der „Ich“ keine feste Kategorie mehr ist, in der Bewusstsein in Graden kommt, in der die Grenze zwischen Selbst und Welt, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Individuum und Kollektiv sich auflöst?
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