Wenn sterbende Giganten kämpfen
![„The Course of Empire: Destruction“ (Thomas Cole, 1836) [Glitch]](https://ben.wf/files/media/thomas-cole_-_the-course-of-empire-destruction-1280x794.jpg.pagespeed.ce.3h30A9qKYN.jpg)
„The Course of Empire: Destruction“ (Thomas Cole, 1836) [Glitch]
Seit dem Jahr 2000 ist etwas Fundamentales zerbrochen. Die RAND Corporation, Denkfabrik des Pentagon, hat dafür einen Namen: Neomittelalter. Das ist kein akademisches Gedankenspiel, sondern ihre offizielle Analyse der Gegenwart, verfasst für das Office of the Secretary of Defense.
Der Bericht beschreibt schwächelnde Staaten und fragmentierte Gesellschaften; eine Welt, in der die Kategorien des 20. Jahrhunderts, wie Krieg und Frieden oder staatlich und privat, ihre Trennschärfe verlieren. Die Autor:innen, Sicherheitsexpert:innen mit Zugang zu klassifizierten Informationen, analysieren darin die Rivalität zwischen den USA und China. Ihr Schluss: Sie wird weniger den titanischen Kämpfen der Weltkriege ähneln als eher den zersplitterten Machtverhältnissen vor dem Westfälischen Frieden.
Das klingt abstrakt, doch die Konsequenzen sind konkret. Diese Konfrontation findet weniger in der Taiwanstraße statt als vielmehr in den Minen der Demokratischen Republik Kongo, wo Kobalt aus der Erde gekratzt wird. China sichert sich durch Infrastruktur-Deals exklusive Schürfrechte, baut Straßen und Häfen, um die Rohstoffe abzutransportieren, und bindet lokale Eliten durch Schulden. Die USA antworten mit Ressourcen-Diplomatie, Sanktionen und der Unterstützung von Anrainerstaaten wie Ruanda, um Chinas Logistik zu stören.
Was nach Schach aussieht, ist in Wahrheit ein molekularer Krieg um Mineralien, ausgefochten mit Söldner:innen, Bestechung und gelegentlich Drohnen. Die Staaten, in denen das stattfindet, sind Kulissen; ihre Regierungen verhandeln nicht, sie vermitteln zwischen Konzernen, die die Rohstoffe brauchen, und Milizen, die sie kontrollieren.
Die RAND-Analyse nennt das „geschwächte Staaten in Regionen mit strategischer Bedeutung“. Vor Ort sieht es aus wie Anarchie, aus der Distanz ist es ein System. Nur dass niemand das ganze System überblickt.
Beide Imperien zeigen dasselbe Muster: Je mehr sie nach außen expandieren, desto brüchiger werden sie im Inneren. Ihre Legitimität erodiert und die Gesellschaften fragmentieren. Die anhaltende soziale Ungleichheit und der Vertrauensverlust in Institutionen sind in beiden Systemen endemisch.
Peking antwortet mit Unterdrückung in Xinjiang und Hongkong, mit intensivierter ideologischer Indoktrination und dem Social Credit System – dem Versuch, durch Technologie eine überwachte, gehorsame Gesellschaft zu erzwingen. Die USA reagieren auf Polarisierung und Stillstand mit einem permanenten Kulturkrieg, der den Feind im Inneren sucht.
Die RAND-Autor:innen schreiben nüchtern: „Die Realitäten staatlicher Schwäche sollten zentrale Überlegungen in aller Verteidigungsarbeit werden. Die Abschreckung von Angriffen, die die politische Legitimität bedrohen, sollte gleiche oder höhere Priorität haben als die Abschreckung konventioneller militärischer Angriffe.“ Der größte Feind ist nicht länger der andere, sondern der Zerfall von innen.
Europa ist dabei weder Spieler noch Zuschauer, sondern ein Spielfeld. Technologisch ist es ein digitaler Vasall: Die Huawei-Debatte war kein souveräner Prozess, sondern ein Loyalitätstest, den Washington erzwang. Wirtschaftlich ist Europa gespalten – Deutschland existenziell von China abhängig, militärisch ein US-Protektorat.
Die strategische Autonomie, von der gesprochen wird, ist Rhetorik. Europa besitzt ASML, den einzigen Hersteller der Maschinen für fortschrittliche Halbleiter, doch die USA kontrollieren die Exportlizenzen. Europa produziert die Werkzeuge, und andere entscheiden, wer sie bekommt.
Während die USA und China um Lithium kämpfen, reguliert Europa Ladekabel. Das ist nicht zwingend ein Versagen, aber es ist die logische Konsequenz, wenn in einer Welt multipler Machtzentren weder Rohstoffe noch Technologieführerschaft kontrolliert werden.
In der Ukraine entschied ein Privatunternehmen über Schlachten. Starlink, Elon Musks Satellitennetzwerk, wurde kriegsentscheidend für ukrainische Kommunikation und Zielerfassung. Als die Ukraine das System für eine Offensive auf der Krim nutzen wollte, lehnte Musk ab. Zu riskant.
Diese Entscheidung traf ein Unternehmer, kein Staat. Die Konsequenz: SpaceX kündigte Starshield an, eine Kriegsführung als Dienstleistung, speziell für Regierungen. Das Pentagon ist nicht mehr Monopolist orbitaler Kriegsführung, sondern Ankerkunde.
Die RAND-Analyse dazu: „Eine perpetuell prekäre Unterstützung der Bevölkerung wird die Abhängigkeit des Militärs von Söldner:innen, unbemannten Systemen und Koalitionspartner:innen vertiefen.“ Die Bevölkerung lässt sich nicht mehr mobilisieren, da der gesellschaftliche Zusammenhalt, der die Weltkriege ermöglichte, nicht mehr existiert. Gewalt wird zur Dienstleistung.
Das Gewaltmonopol des Staates, Grundprinzip der Moderne, löst sich auf. An seine Stelle tritt ein Markt.
Russlands Invasion der Ukraine schien die These zunächst zu widerlegen. Konventioneller Krieg, Panzer, Artillerie – das sah nach dem 20. Jahrhundert aus. Bei genauerer Betrachtung bestätigt es jedoch das Neomittelalter: Russland versuchte, einen modernen Krieg mit den Mitteln eines geschwächten Staates zu führen. Die von Korruption zerfressene Armee konnte keine Teilmobilisierung durchführen, ohne dass Hunderttausende flohen. Also kämpft Russland mit einer kleinen Berufsarmee, ergänzt durch Söldner der Wagner-Gruppe und Milizen, die von kriminellen Warlords geführt werden.
Die bevorzugte Taktik sind Belagerungen. Statt schneller Manöver dominiert das Aushungern von Städten, das Zerstören von Infrastruktur, das Warten. Beide Seiten versuchen, die Legitimität des anderen durch Cyberangriffe, Desinformation und wirtschaftlichen Druck zu untergraben.
Der Krieg wird nicht auf dem Schlachtfeld entschieden, sondern in den Köpfen der Bevölkerung. Russlands schmerzhafte Erfahrung in der Ukraine unterstreicht eine zentrale Schlussfolgerung: Wir sollten der Versuchung widerstehen, Lösungen aus der Ära industrieller Nationalstaaten auf neomittelalterliche Probleme anzuwenden.
Wenn zwei geschwächte Imperien um Hegemonie ringen, zahlen andere den Preis. Die RAND-Analyse beschreibt „Proxy-Konflikte in fragilen Ländern entlang der Belt and Road Initiative“ als wahrscheinliches Szenario – keine direkte Konfrontation, sondern indirekte Kriege in Drittstaaten.
Pakistan, wo beide Seiten Einfluss suchen. Äthiopien, wo China und die USA unterschiedliche Fraktionen unterstützen. Die Philippinen, wo ein Taifun zur Gelegenheit wird, Einfluss durch Katastrophenhilfe zu demonstrieren. Jede Krise wird zum Wettbewerb und jeder schwache Staat zum Spielfeld.
Die Bevölkerungen dieser Länder sind dabei kein Akteur, sondern nur Inventar: Ressourcen, die gesichert, Märkte, die erschlossen, und Territorien, auf denen Einfluss demonstriert werden soll.
Norman Pollack, Historiker und Bürgerrechtsveteran, schrieb 2017 im Hospiz sein letztes Buch über diese Dynamik. Er beschrieb die Drohne – unbemannt, ferngesteuert, tödlich – als perfektes Symbol einer Gesellschaft, die so tief in Entfremdung versunken ist, dass sie das Töten als bürokratischen Akt behandeln kann. Achttausend Meilen Distanz, klimatisierte Container in Nevada, PowerPoint-Präsentationen im Situation Room.
Die Bürokratisierung des Todes, schrieb Pollack, ist kein Fehler im System; sie ist das System selbst. Wenn Menschen zu Objekten werden, Beziehungen zu Transaktionen und Wert nur in Nützlichkeit liegt, dann ist der Schritt zum „Blutspritzer“ – alles, was von einem Menschen nach einem Raketenangriff übrig bleibt – nur eine Frage der Distanz.
Schon zwischen 2004 und 2012 wurden durch US-Drohnenangriffe in Pakistan zwischen 2.597 und 3.398 Menschen getötet, darunter 176 Kinder. Die Regierung bestritt lange, dass es zivile Opfer gab. Dann redefinierte sie „Kämpfer“: Jeder militärfähige Mann in einer Kampfzone zählt automatisch als Kombattant, es sei denn, seine Unschuld wird nachträglich bewiesen. Nachträglich bedeutet: nach seinem Tod.
Die RAND Corporation und Norman Pollack kommen aus entgegengesetzten Richtungen zum selben Schluss: Die Welt, wie wir sie kannten, existiert nicht mehr. Die Strukturen des 20. Jahrhunderts – starke Nationalstaaten, klare Grenzen, Gewaltmonopol – lösen sich auf.
An ihre Stelle tritt etwas Älteres: überlappende Loyalitäten, private Armeen, fragmentierte Autorität. Staaten, die verzweifelt versuchen, durch Überwachung und Gleichschaltung ihre schwindende Legitimität zu retten. Konzerne, die Dienste anbieten, die früher nur Staaten erbringen konnten.
Wenn das Neomittelalter vor der Tür steht, wer überlebt in einer Welt, in der die beiden größten Mächte sich gegenseitig schwächen, während sie vorgeben, um Hegemonie zu kämpfen? In der jede Krise in Drittstaaten zum Stellvertreterkrieg wird und Gewalt zur Dienstleistung, bei der der höchste Bieter entscheidet?
Die RAND-Autor:innen schließen: „Anpassung kann durch intelligente Justierung erfolgen oder erzwungen werden, unwillig und ohne Verständnis. Ersteres könnte Gefahren minimieren und vielleicht einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil gegenüber weniger vorbereiteten Rivalen bringen. Letzteres riskiert katastrophale Fehleinschätzungen.“
Pollack, weniger diplomatisch, schrieb: Wir leben bereits in der Dystopie. Wir haben uns nur daran gewöhnt, sie nicht so zu nennen.
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