FN 77: Die Emanzipationsfalle
Feldnotiz
Du gibst dem Team alle Freiheiten, überträgst Verantwortung und nennst es Empowerment
. Doch statt mutiger Entscheidungen bekommst du bessere Rechtfertigungen. Statt Eigeninitiative erlebst du ein Zögern, das sich hinter Prozessen verschanzt. Du wolltest ein Feuer entfachen und hast stattdessen den Rauchmelder optimiert.
Der Impuls war richtig. Die Diagnose ist es nicht.
Der gutmeinende Versuch, andere zu „emanzipieren“, ist oft der subtilste Glitch
im System. Es ist der Versuch, Agency
per Dekret zu verordnen, wo sie nur durch Erfahrung wachsen kann. Das Ergebnis ist keine Freiheit, sondern eine intelligentere Form der Abhängigkeit. Die unsichtbaren Regeln des Spiels bleiben intakt; sie bekommen nur einen neuen, wohlklingenden Anstrich.
Der Fehler liegt in der Annahme, Agency
wäre ein Geschenk, das wir verteilen können. Sie ist es nicht. Sie ist eine Fähigkeit, die unter Druck geschmiedet wird – das Resultat eines internen Betriebssystem-Upgrades, das nur der User selbst ausführen kann.
John Boyd nannte die Essenz dieser Fähigkeit Fingerspitzengefühl
– die intuitive, fast physische Verbindung zum Terrain. Es genügt nicht, die Regeln des Systems zu kennen. Wir müssen seine Physik spüren, seine Rhythmen erlernen, um darin neue Muster komponieren zu können. Handlungsfähigkeit entsteht nicht durch Erlaubnis von außen, sondern durch die erworbene Kompetenz, drei Bedingungen für sich selbst herzustellen:
- Die eigenen Wahlmöglichkeiten sehen, wo andere nur Sachzwänge erkennen.
- Die Wirkung des eigenen Handelns unmittelbar spüren, statt auf das Echo eines Jahresgesprächs zu warten.
- Die eigene Umgebung aktiv gestalten, anstatt sie nur passiv zu verwalten.
Die Intervention zielt daher nicht darauf, Menschen aus dem System zu befreien – eine wohlklingende Illusion. Sie kalibriert ihre Fähigkeit, wirksam im System zu operieren. Sie schmiedet Akteur:innen, die die Realität nicht als Gefängnis, sondern als Operationsraum begreifen, dessen Physik veränderbar ist.