Das Eismeer (Caspar David Friedrich, 1823/24) [Glitch]Das Eismeer
Caspar David Friedrich, 1823/24 [Glitch]

In einer Zeit, in der autoritäre Systeme weltweit an Attraktivität gewinnen, weil sie „funktionieren“, weil sie „Dinge erledigen“, weil die Züge pünktlich fahren, lohnt sich ein Blick darauf, wie solche Systeme tatsächlich enden. Nicht theoretisch, sondern praktisch. Und nicht als Hoffnung, sondern als Muster, das sich lesen lässt, wenn wir wissen, wonach wir suchen.

Das hier ist eine Lesart. Eine mögliche Interpretation historischer Zusammenbrüche, eine Interpretation von Mustern und Proxies, Indikatoren mit hoher Korrelation, aber ohne Garantie. Punkte im Raumzeitgefüge, an denen sich Ursachen verdichten, aber nie monokausal werden. Die Antwort, wenn es eine gibt, ist überraschend banal. Und genau deshalb subversiv.

Portugal, 1974: die Nelken in den Gewehrläufen

António de Oliveira Salazar regierte Portugal von 1932 bis 1968, sechsunddreißig Jahre eiserne Diktatur: der Estado Novo, der „Neue Staat“. Geheimpolizei PIDE, die der späteren Stasi in nichts nachstand. Folter in den Kellern von Lissabon. Zensur, die jedes Wort kontrollierte, jede Zeitung las, jeden Brief öffnete. Ein perfekt geöltes Unterdrückungssystem, das sich selbst als Bollwerk gegen Chaos verstand, als notwendige Ordnung in einer Welt, die sonst ins Verderben stürzen würde.

Salazar starb 1968. Sein Nachfolger Marcelo Caetano setzte das System fort, vielleicht etwas weniger brutal in der Rhetorik, aber nicht weniger total in der Kontrolle. Alles schien stabil. Die Wirtschaft funktionierte, wenn auch nicht herausragend. Die Straßen waren sicher, wenn auch unter Überwachung. Die Ordnung war gewahrt, kontrolliert, unerschütterlich.

Dann, am 25. April 1974, war es vorbei, innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Fast ohne Blutvergießen; Soldaten steckten Nelken in ihre Gewehrläufe. Die Diktatur kollabierte wie ein Kartenhaus, von dessen Karten niemand bemerkt hatte, dass sie schon lange nicht mehr aufeinander lagen.

Was passiert war? Nicht eine große Idee. Nicht ein charismatischer Führer, der die Massen mobilisierte. Nicht eine philosophische Erleuchtung über die Würde des Menschen oder die Notwendigkeit der Freiheit. Keine Bewegung, die Jahre im Untergrund gewachsen war, keine geheime Organisation, die den perfekten Moment abgewartet hatte.

Kolonialkriege.

Portugal führte seit 1961 Kriege in Angola, Mosambik und Guinea-Bissau. Drei Fronten gleichzeitig. Sinnlose Kriege, um Kolonien zu halten, die nicht mehr zu halten waren, für ein Imperium, das bereits ein Phantom war, für eine Idee von nationaler Größe, die nur noch in den Köpfen alternder Männer in Lissabon existierte. Junge Männer wurden eingezogen, in Truppentransporter gepfercht, über den Atlantik geschickt, in den Dschungel geworfen. Um für etwas zu sterben, das sie nicht verstanden, für ein System, das ihnen nichts gab außer der Ehre, für die Nation zu fallen.

Die jungen Offiziere, die Movimento das Forças Armadas, hatten schlicht keinen Bock mehr. Nicht aus ideologischer Überzeugung, nicht weil sie Demokrat:innen geworden waren oder plötzlich an Menschenrechte glaubten. Aus Erschöpfung; aus der Erkenntnis, die in den Schützengräben kommt, wenn du lange genug im Schlamm liegst und auf einen unsichtbaren Feind schießt, wenn der Kamerad neben dir stirbt und du nicht erklären kannst warum: Das hier ergibt keinen Sinn.

Sie putschten nicht für Demokratie; sie putschten, um den Krieg zu beenden. Die Demokratie war fast ein Nebenprodukt, eine Konsequenz der Erschöpfung mit einem System, das seine eigenen Söhne verbrannte für eine Idee, an die niemand mehr glaubte.

Das ist das erste Muster, und es wiederholt sich.

Die Banalität des Endes

Systeme enden selten aus den Gründen, die wir uns wünschen. Nicht weil das Volk plötzlich erwacht und die Ketten sprengt. Nicht weil die Unterdrückten die Barrikaden stürmen, inspiriert von einer Vision der Freiheit. Nicht weil die Wahrheit über die Lüge siegt, das Licht über die Dunkelheit, die Gerechtigkeit über die Tyrannei.

Sie enden, weil das System seine eigenen Widersprüche nicht mehr auflösen kann. Weil die Kosten der Aufrechterhaltung die Vorteile übersteigen. Weil die Menschen, die das System am Laufen halten sollen, die Motivation verlieren. Weil irgendwann zu viele Leute in zu vielen Schützengräben liegen und dieselbe Frage stellen: Wofür eigentlich?

Die DDR fiel durch eine Verkettung: Gorbatschows Reformen schufen den Rahmen. Ungarns Grenzöffnung ermöglichte Flucht. Und dann gingen die Menschen, massenhaft. Über Ungarn, als die Grenze sich öffnete, über die Tschechoslowakei. Über die Botschaften, wo sie sich zu Hunderten drängten, warteten, hofften. Das System konnte Dissens unterdrücken, Kritik zensieren, Oppositionelle einsperren. Aber es konnte nicht funktionieren, wenn die Menschen, die die Fabriken betreiben sollten, die Züge fahren sollten, die Verwaltung am Laufen halten sollten, einfach nicht mehr da waren.

Die Mauer fiel nicht, weil jemand sie niederriss. Sie fiel, weil sie irrelevant wurde; weil das System, das sie schützen sollte, bereits kollabiert war. Es wusste es nur noch nicht. Günter Schabowski, müde, schlecht vorbereitet, blättert in seinen Notizen: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.“ Die Mauer fiel, weil ein Bürokrat sich verplappert hatte. Aber sie fiel nicht wirklich in diesem Moment. Sie war bereits gefallen, und dieser Moment machte es nur sichtbar.

Die Sowjetunion fiel nicht durch Reagans „Tear down this wall“-Rhetorik, so gern sich der Westen das erzählt. Sie fiel, weil das System ökonomisch nicht mehr funktionierte. Weil die Planwirtschaft der Komplexität der modernen Welt nicht gewachsen war. Weil die Menschen in den Schlangen vor leeren Läden standen und wussten, mit einer Gewissheit, die tiefer geht als jede Ideologie, die in den Knochen sitzt, wenn zum dritten Mal in dieser Woche zwei Stunden für Brot angestanden wird: Das hier führt nirgendwohin.

Gorbatschow versuchte, das System zu reformieren. Glasnost. Perestroika. Transparenz und Umstrukturierung. Wir können ein System nicht reformieren, dessen fundamentale Logik gebrochen ist. Wir können nur zusehen, wie es zusammenbricht, und hoffen, dass der Zusammenbruch nicht alles mit sich reißt.

Die Apartheid in Südafrika endete nicht, weil die Welt plötzlich erkannte, dass Rassismus falsch ist; das wusste die Welt schon lange. Sie endete, weil das System ökonomisch unhaltbar wurde. Sanktionen. Isolation. Aber vor allem: Die Erkenntnis der weißen Elite, dass ein System, das achtzig Prozent der Bevölkerung ausschließt, in einer globalisierten Wirtschaft nicht konkurrenzfähig ist. Die Verhandlungen begannen nicht aus moralischer Erleuchtung, sondern aus pragmatischer Notwendigkeit, aus der kalten Berechnung, dass Verhandeln billiger ist als Bürgerkrieg, dass ein kontrollierter Übergang besser ist als Chaos.

Kosten und Zyklen

Zwei Denker liefern Werkzeuge, um diese Muster zu lesen:

Der Anthropologe Joseph Tainter verbrachte Jahre damit, die Ruinen toter Zivilisationen zu studieren: Die Maya, die Chaco-Kultur, das Weströmische Reich. Seine Antwort auf die Frage, warum sie kollabieren, ist elegant und unbarmherzig: Komplexität kostet Energie. Und irgendwann kosten die Lösungen mehr als die Probleme, die sie lösen sollen.

Ein System wächst, indem es Komplexität aufbaut: Armeen, Bürokratie, Infrastruktur. Am Anfang zahlt sich jede Investition aus. Aber die Gewinne werden geringer: Irgendwann wird ein Wendepunkt erreicht, an dem jede weitere Investition in Komplexität weniger zurückgibt als sie kostet. Das System beginnt, sich selbst zu kannibalisieren, um die bereits aufgebaute Komplexität zu erhalten.

Das Weströmische Reich ist das klassische Beispiel: Anfangs war Expansion profitabel. Gallien erobern, Reichtum nach Rom fließen lassen. Irgendwann waren die Grenzen so weit und lang, dass die Kosten ihrer Verteidigung die Gewinne überstiegen. Das Reich wurde in kleinere Provinzen geteilt, um Bürgerkriege zu verhindern. Jede Provinz brauchte ihre eigene Verwaltung, ihre eigene Armee. Die Komplexität stieg. Die Steuern stiegen. Die Bauern, die das bezahlen sollten, verarmten, gaben ihre Höfe auf, wurden Pächter auf großen Gütern. Die Produktivität sank. Das System begann, sich selbst zu kannibalisieren.

Das Fatale: Wir können nicht zurück. Komplexität ist wie eine Ratsche; nur nach vorne, nie zurück. Das System ist gefangen: Zu komplex, um zu funktionieren, zu starr, um sich anzupassen.

Tainter fügt eine moderne Wendung hinzu: In der Antike konnten Systeme kollabieren, weil es Raum gab, in den sie kollabieren konnten. Das Weströmische Reich fiel, an seine Stelle traten kleinere Königreiche. Die Maya-Stadtstaaten zerfielen, und der Dschungel holte sich das Land zurück.

Heute ist die Welt voll. Jeder Quadratmeter wird von einem Staat beansprucht. Wenn ein System heute kollabiert, absorbiert ein Nachbar das Vakuum. Oder es entsteht Chaos, das niemand will. Tainters Schlussfolgerung: Moderne Staaten können nicht einzeln kollabieren. Entweder sie passen sich an, oder sie kollabieren alle gleichzeitig.

Der Evolutionsbiologe Peter Turchin suchte nach Mustern in riesigen historischen Datenbanken. Er fand zwei Faktoren, die Krisen ankündigen: Elite Overproduction (zu viele Aspirant:innen, zu wenige Stühle) und Popular Immiseration (die relative Verarmung der Bevölkerung).

Wenn es mehr Menschen gibt, die Elite werden wollen, als es Elite-Positionen gibt, beginnt der Wettbewerb, die sozialen Normen zu untergraben. Gleichzeitig arbeiten die Menschen härter und haben trotzdem weniger. Sie sehen, dass ihre Eltern es besser hatten. Turchin misst das mit dem „relativen Lohn“ (Lohn geteilt durch BIP pro Kopf), der in den USA seit den 1970ern massiv gefallen ist, während die CEO-Gehälter explodierten.

Hier kommt eine entscheidende Einsicht hinzu, die Turchin mit der Weisheit der Blackfeet-Nation verbindet, die Maslow ursprünglich inspirierte: Bedürfnisse sind nicht hierarchisch. Die Frage „Wofür lebe ich?“ ist kein Luxus der Satten, sie ist das Fundament.

Systeme kollabieren, wenn Menschen hungern. Und sie kollabieren, wenn Menschen satt sind und trotzdem das Gefühl haben, dass ihr Leben sinnlos ist. David Graeber gab dieser Sinnkrise mit Bullshit Jobs einen Namen: Ein System, das Tainters Muster folgt, also mehr Energie für seine Selbserhaltung (Bürokratie, die Bürokratie kontrolliert) aufwendet als für produktiven Output, erzeugt zwangsläufig Sinnlosigkeit.

Turchins eigentliche These, angelehnt an den Historiker Ibn Chaldūn, geht tiefer: Gesellschaften entstehen und überleben durch Asabiyya – soziale Kohäsion, Gruppenzusammenhalt, das Gefühl, im selben Boot zu sitzen. Dieser Zusammenhalt ist die Ressource, die es einem Staat erlaubt, externe Bedrohungen abzuwehren und interne Projekte zu stemmen. Elite Overproduction und Popular Immiseration sind deshalb so gefährlich, weil sie genau diese Kohäsion zersetzen. Die Elite kämpft gegeneinander statt für das System, und die Bevölkerung hat keinen Grund mehr, sich für eine Elite aufzuopfern, die sie verarmen lässt.

Miete und ALDI sind notwendig. Aber sie sind nicht hinreichend.

Portugal: Die Offiziere in Afrika hatten Sold und Essen. Was sie nicht hatten, war eine Antwort auf die Frage: Wofür sterbe ich hier? Die Kohäsion war gebrochen.

DDR: Die Menschen hatten Arbeit und Wohnungen. Was sie nicht hatten, war Sinn, der über das bloße Funktionieren im System hinausging.

Sowjetunion: Es war nicht primär der Hunger, der das System zu Fall brachte. Es war die Sinnkrise einer Generation, die ihr Leben einer Lüge gewidmet hatte.

Der neue Kontext: das Neomittelalter

Diese Muster des Zerfalls, Komplexitätskosten und Eliten-Zyklen, treffen heute auf einen neuen Kontext. Die RAND Corporation, die Denkfabrik des Pentagon, nennt das in ihrer offiziellen Analyse das Neomittelalter.

Es ist eine Welt, in der die Kategorien des 20. Jahrhunderts – staatlich und privat, Krieg und Frieden, legal und illegal – ihre Trennschärfe verlieren. Die Konfrontation findet nicht mehr nur zwischen Staaten statt, sondern molekular, in den Minen des Kongo oder über private Satellitennetzwerke wie Starlink.

Diese Fragmentierung, in der ein:e Unternehmer:in wie Elon Musk über Kriegsverläufe entscheidet, weil er die Kommunikation kontrolliert, ist der Nährboden, auf dem die alten Zeichen des Kollapses neu wachsen. Das Neomittelalter modifiziert, wie wir diese Zeichen lesen müssen.

Eine Anatomie des Zusammenbruchs

Wenn wir wissen, wonach wir suchen, können wir die Zeichen lesen. Nicht als Prophezeiung, aber als Wahrscheinlichkeit. Als Muster, das sich wiederholt, weil die Logik dieselbe ist.

Der neomittelalterliche Exit

Das System funktioniert, noch. Aber intern beginnt etwas zu erodieren. Die Kompetenten gehen. Nicht alle auf einmal, nicht laut, aber stetig. Die Ingenieur:innen, die Ärzt:innen, die Wissenschaftler:innen.

In der DDR flohen Ingenieur:innen in den Westen. Im Neomittelalter ist dieser Exit, wie der Ökonom Albert Hirschman ihn nannte, vielschichtiger. Er bedeutet nicht nur Migration, er bedeutet den Wechsel vom öffentlichen in den privaten Sektor. Wenn die fähigsten Köpfe nicht mehr das Pentagon, sondern SpaceX als relevanten Akteur sehen, um kriegsentscheidende Satellitensysteme zu bauen, ist das ein Brain Drain, der im selben Land stattfindet. Systeme, die ihre Talente nicht halten können, sterben langsam.

Zynismus der Eliten

Die Zynischen bleiben. Sie haben gelernt, das Spiel zu spielen. Sie sagen die richtigen Worte, applaudieren an den richtigen Stellen. Aber sie glauben nicht mehr. Sie warten ab. Sie optimieren für Exit, nicht für Widerspruch.

Die Ideolog:innen werden schriller. Sie spüren, dass niemand mehr zuhört. Also werden sie lauter, radikaler, verzweifelter. Sie fordern mehr Reinheit, mehr Disziplin, mehr Opfer. Weil sie spüren, dass das System bröckelt, und die einzige Antwort, die sie kennen, ist: mehr vom Gleichen. Das ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Panik.

Die Kosten übersteigen die Vorteile

Das System muss immer mehr Ressourcen aufwenden, um sich selbst zu erhalten – nicht um zu wachsen oder zu gedeihen, sondern nur um nicht zu kollabieren.

Mehr Überwachung, weil es weniger freiwillige Kooperation gibt. Mehr Repression, weil es mehr Unzufriedenheit gibt. Mehr Propaganda, weil es niemand mehr glaubt. Tainters Modell, die Kosten der Komplexität, manifestieren sich genau als die Bullshit Jobs, die Graeber beschreibt.

In der neomittelalterlichen Kriegsführung sehen wir dasselbe: Der Versuch, mit den Mitteln eines Nationalstaats, mit Panzern und Massenmobilisierung, einen fragmentierten Krieg zu führen, scheitert an den eigenen Kosten, wie Russland in der Ukraine erfahren musste. Das System wird zu teuer für sich selbst.

Die Spaltung der Elite

Solange die Elite geschlossen hinter dem System steht, ist es stabil. Der Wendepunkt kommt, wenn Teile der Elite eine Berechnung anstellen, die kälter ist als jede Ideologie: Wir haben mehr zu gewinnen, wenn wir das System ändern, als wenn wir es verteidigen.

Klassisch, wie F.W. de Klerk in Südafrika, der Verhandlungen dem Bürgerkrieg vorzog. Die neomittelalterliche Spaltung ist anders. Sie zielt nicht auf Reform, sie zielt auf Abkopplung. Darauf komme ich zurück.

Der Trigger

Der finale Zusammenbruch kommt oft durch etwas Kleines. Etwas Unerwartetes. Etwas, das in sich unbedeutend ist, aber das letzte Stück Legitimität zerstört.

Tunesien, 2011: Mohamed Bouazizi, ein Straßenverkäufer, zündet sich an, weil eine Polizistin seinen Karren konfisziert hat. Ein Einzelfall, der zum Symbol für die Demütigung von Millionen wird. Der Arabische Frühling fing nicht mit einer Idee an, sondern mit einem Akt der Verzweiflung, der so banal ist, dass er universell wird.

Tschernobyl war für die Sowjetunion verheerender als die Strahlung. Es war verheerend, weil die Lügen so offensichtlich wurden. Weil das System behauptete, alles sei unter Kontrolle, während Menschen starben. Weil jeder sehen konnte: Sie lügen. Und wenn sie hierüber lügen, worüber lügen sie noch?

Der Trigger ist nicht die Ursache. Er ist der Moment, in dem die bereits existierende Spannung sich entlädt.

Das Pendel: autoritär ↔︎ demokratisch

Diese Muster gelten nicht nur für Diktaturen. Demokratien können an denselben Mechanismen sterben. Vielleicht langsamer, vielleicht subtiler, aber genauso sicher.

Auch Demokratien können Tainters Punkt der sinkenden Grenzerträge erreichen, wenn das System so komplex geworden ist, dass niemand mehr versteht, wie es funktioniert. Auch Demokratien können Turchins Elite Overproduction und Popular Immiseration erleben. Die USA seit den 1970ern sind das perfekte Beispiel; die Muster wiederholen sich.

Wenn die ökonomische Realität zu viele Menschen zurücklässt, wenn Freiheit sich anfühlt wie die Freiheit zu verhungern, wenn Partizipation sich anfühlt wie die Illusion von Einfluss ohne echte Macht, wenn „Demokratie“ zu einer leeren Hülse wird.

Dann suchen Menschen Alternativen. Und die autoritäre Alternative verspricht, was die erschöpfte Demokratie nicht mehr liefern kann: „Wir werden die Kosten senken. Wir werden Ordnung schaffen. Wir werden euch schützen. Wir werden euch sagen, wofür ihr lebt.“

Das Versprechen ist eine Lüge. Und wenn die demokratische Alternative nicht liefert – nicht Utopie, aber Würde, nicht Perfektion, aber Perspektive, nicht Sinn von oben, aber die Möglichkeit, Sinn zu finden – dann wird die Lüge attraktiv.

Das Pendel schwingt. Autoritär zu demokratisch; demokratisch zu autoritär. Manchmal nur von einer Diktatur zur nächsten. Die Geschichte ist in dem Sinne kein Fortschritt: Sie ist eine Oszillation zwischen verschiedenen Formen des Scheiterns.

Die neuen Kolonialkriege

Lesen wir diese Muster im Kontext der Gegenwart. Was sind die „sinnlosen Kriege“ von heute?

Der Krieg gegen den Klimawandel, den wir verlieren, weil wir ihn nicht kämpfen. Eine Generation, die weiß, dass sie die Rechnung zahlen wird für Entscheidungen, die andere getroffen haben.

Der Krieg um Aufmerksamkeit in der Gig Economy. Hochgebildete junge Menschen, die sechzig Stunden pro Woche arbeiten für Miete und ALDI, für Systeme, die sie nie besitzen werden. Das ist Turchins relative Verarmung in Aktion.

Der Krieg um Sinn in einer Welt der Bullshit Jobs. David Graebers Erkenntnis, dass Menschen acht Stunden am Tag Dinge tun, von denen sie wissen, dass sie sinnlos sind.

Systeme, die ihre Jugend verheizen, überleben nicht. Die ökonomischen Risse sind sichtbar, autoritäre Effizienz zeigt sie genauso: Chinas Immobilienkrise, ein Sektor, der vierzig Prozent der Wirtschaft ausmacht, kollabiert in Zeitlupe. Russlands Kriegswirtschaft, die die Zukunft verbrennt für einen Krieg, den sie nicht gewinnen kann.

Parallel zum Exit der Eliten findet eine innere Emigration der Massen statt: Flucht in Kryptowährungen, in virtuelle Welten, in Nicht-Partizipation. Tang ping in China, die bewusste Verweigerung von Leistung. Nicht als politisches Statement; als Erschöpfung. Jede Form von Exit ist ein Signal.

Die Frage ist: Wie lange dauert es, bis genug Menschen in genug Schützengräben sitzen und dieselbe Erkenntnis haben wie die Offiziere in Angola?

Die Warnung vor dem Sovereign Individual

Und hier kommt die gefährlichste Versuchung, die Idee aus dem Buch The Sovereign Individual: Exit als Lösung.

Die technologische These ist korrekt: Verschlüsselung, Kryptowährungen, digitale Mobilität verschieben die Machtbalance zwischen Individuum und Staat. Das ist real und passiert. Technologie ermöglicht Exit in einem Ausmaß, das historisch beispiellos ist. Ihre normative Schlussfolgerung ist allerdings fatal.

Exit als universelle Strategie funktioniert nur, solange es ein System gibt, aus dem wir uns abkoppeln können. Die Sovereign Individuals genießen ihre Freiheit nur, solange genug Menschen die Infrastruktur am Laufen halten, die sie nutzen: die Straßen bauen, die Satelliten starten, die Server warten.

Diese Abkopplung ist die ultimative Entfremdung, die der Historiker Norman Pollack in der Drohnenkriegsführung sah: eine Elite, die das Töten als bürokratischen Akt behandelt, weil sie sich vom Rest der Gesellschaft, die die Infrastruktur bereitstellt, mental und physisch entkoppelt hat.

Die Sovereign Individual-Vision ist nicht die Lösung. Sie ist Symptom und Beschleuniger des Kollapses zugleich. Sie ist der exakte Tod der Asabiyya – jener sozialen Kohäsion, die Turchin und Khaldūn als Kern des gesellschaftlichen Zusammenhalts identifizierten.

Exit mag für das Individuum rational sein. Für das System, das auf dieser Kohäsion beruht, ist es tödlich. Und wenn das System stirbt, stirbt auch die Infrastruktur, auf der die Freiheit der Sovereign Individuals basiert. Und damit der Sovereign Individual selbst.

Die Lesart, nicht das Gesetz

Portugal fiel, weil junge Männer in Schützengräben keinen Sinn mehr sahen. Wird das wieder passieren? Vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Die Muster, die wir hier gelesen haben – Tainters Logik, Turchins Zyklen, Graebers Sinnkrise, Hirschmans Exit und die Fragmentierung des Neomittelalters – sind keine Prophezeiungen. Sie sind Heuristiken; Karten, die nicht das Territorium sind, aber helfen, sich zu orientieren. Werkzeuge, um Gegenwart zu lesen, nicht um Zukunft vorherzusagen.

Wir wissen, dass diese Lesart konstruiert ist. Dass wir aus der unendlichen Komplexität historischer Ereignisse jene Fäden herausgezogen haben, die ein kohärentes Muster ergeben.

Und trotzdem: Die Korrelationen sind stark. Die Zeichen wiederholen sich. Nicht deterministisch, aber häufig genug, dass Aufmerksamkeit klüger ist als Ignoranz. Häufig genug, dass diese Lesart nützlich sein könnte, auch wenn sie nicht wahr ist im Sinne einer objektiven Wahrheit.

Das ist die post-zynische Haltung: Wir haben die Illusionen verloren. Wir wissen, dass Systeme sterben. Wir wissen, dass uns keine grand narrative rettet. Wir wissen, dass die Zukunft nicht vorhersagbar ist. Wir wissen, dass auch diese Lesart nur eine von vielen möglichen ist.

Und trotzdem lesen wir die Zeichen. Nicht weil wir sicher sind. Weil in einer Welt, die sich schneller ändert als wir verstehen können, Aufmerksamkeit die Grundlage für Handlungsfähigkeit ist, die uns bleibt. Nicht die Handlungsfähigkeit, den Kollaps zu verhindern – das wäre die alte Hybris – sondern die Handlungsfähigkeit, in ihm zu navigieren. Weil das Lesen von Mustern, auch wenn sie keine Gesetze sind, uns vorbereitet auf Möglichkeiten, die sonst unsichtbar blieben.

Die Nelken in den Gewehrläufen waren nicht der Anfang; sie waren das Ende. Der Anfang war Jahre vorher, in den Schützengräben Angolas, als junge Männer erkannten: Wir sterben für nichts.

Systeme enden nicht, wenn sie am grausamsten sind. Sie enden, wenn sie sinnlos werden. Wenn die Frage „Wofür?“ keine Antwort mehr findet, die überzeugt.

Und die gefährlichste Erkenntnis für jedes System, autoritär oder demokratisch, ist die, die sich nicht unterdrücken lässt, weil sie von innen kommt, weil sie in den Knochen sitzt, weil sie sich nicht wegdiskutieren lässt:

„Das hier ergibt keinen Sinn mehr.“

Das ist kein Ende. Das ist eine Schwelle. Der Moment, in dem die Suche nach etwas beginnt, das es tut.

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